Zurück auf den Sockel
Der gesetzliche Mindestlohn zwingt die Gewerkschaften zu einem Strategiewechsel in der Tarifpolitik.
Der gesetzliche Mindestlohn zwingt die Gewerkschaften zu einem Strategiewechsel in der Tarifpolitik. Das zeigt sich in der aktuellen Tarifrunde im Öffentlichen Dienst. In dieser rücken insbesondere die unteren Lohngruppen in den Fokus der Arbeitnehmervertreter. Diese sollen eine deutlich größere Gehaltssteigerung als die oberen Lohngruppen bekommen, damit der Abstand zum Mindestlohn gewahrt bleibt. Ver.di ist der Vorreiter. Die Dienstleistungsgewerkschaft fordert im Schulterschluss mit dem Deutschen Beamtenbund einen einheitlichen Sockelbetrag von 100 Euro für alle Tarifgruppen. Auf diesen soll anschließend die übliche prozentuale Erhöhung draufgesattelt werden. Ver.di strebt eine Tarifanhebung von 3,5% nach dem Sockelbetrag an (Sockel plus X). Setzt sich Ver.di durch, steigen die Gehälter der unteren Lohngruppen nahezu doppelt so stark wie die in den oberen Lohngruppen. Mit der neuen Strategie zielen die Gewerkschaften direkt auf neue Mitglieder ab. Denn diese gewinnen sie insbesondere in den unteren Lohngruppen. Wird der Abstand zum Mindestlohn aber zu gering, haben die Arbeitnehmervertreter keine guten Argumente in der Mitgliederwerbung. Darum wollen sie den Abstand zum Mindestlohn mit dem Sockelbetrag plus X am liebsten noch vergrößern. Hintergrund: Jeder fünfte Beschäftigte verdient tariflich weniger als 10 Euro pro Stunde. Die übrigen Gewerkschaften (IG Metall, IG Chemie und IG Bau) beobachten den Vorstoß mit Interesse. Kommt Ver.di mit der Kraft der streikbereiten Müllmänner und Busfahrer mit der Forderung durch, wird das Modell im nächsten Jahr auch von den anderen Gewerkschaften kopiert werden. Die voraussichtlich weiterhin gute Beschäftigungssituation spielt den Gewerkschaften dabei in die Hände.
Fazit: Die Gewerkschaften rücken die unteren Lohngruppen wieder in das Zentrum ihrer Tarifpolitik. Gelingt Ver.di der Abschluss, werden andere Gewerkschaften folgen und die Arbeitskosten der unteren Lohngruppen auch in anderen Branchen überdurchschnittlich steigen.