Die große Herausforderung des Westens
In einer zunehmend multipolaren Welt stünden die freien und hochentwickelten Demokratien des globalen Westens vor immer größeren Herausforderungen. Die Turbulenzen seien hauptsächlich auf China, Russland, Iran und Nordkorea zurückzuführen, die alle von Autokraten regiert werden, ist die Ansicht von Berenberg-Chefvolkswirt Holger Schmieding in seiner aktuellen geopolitischen Analyse.
- Die meisten Länder des globalen Südens verfolgten zunehmend unabhängige Strategien, anstatt sich auf die Seite des Westens zu stellen (Beispiel: Indien). Dennoch sollte „der Westen“ nicht pessimistisch sein; die Zeit arbeite für ihn, langfristig stünden seine Feinde schlechter da.
- China kranke an hoher Verschuldung, ungünstiger Demografie, ineffektiven staatlichen Interventionen.
- Russland müsse wirtschaftliche Rückschläge durch Kriegswirtschaft und langfristig durch die Sanktionen verkraften, zugleich einen Aderlass durch die vielen Kriegstoten, seine wirtschaftliche Bedeutung in der Welt gehe wie die des Westens deutlich zurück. Laut IWF sei sein Anteil am globalen BIP von 3 % vor der Invasion im Jahr 2013 auf 1,9 % aktuell gesunken.
- Der Iran erlebe einen wirtschaftlichen Niedergang durch Sanktionen und innenpolitische Repression. Sein Anteil am globalen BIP ist von 2,6 % im Jahr 1990 auf 0,8 % im Jahr 2010 und jetzt nur noch auf 0,4 % eingebrochen.
- Nordkorea plage seine Bevölkerung durch dauerhafte wirtschaftliche Schwäche und Hungersnöte.
Wie sich der Westen wehren kann
Der Westen müsse seine Verteidigung stärken, Abhängigkeiten verringern und auf lange Sicht planen, „beispielsweise durch solide Verteidigungsausgaben.“ China müsse durch militärische Unterstützung Taiwans und wirtschaftliche Sanktionen „abgeschreckt“ werden. „Das wäre teuer für den Westen. Noch teurer wäre es jedoch für China, das als viel ärmere Volkswirtschaft den Handel mit den wichtigsten Märkten der Welt noch mehr braucht als umgekehrt.“
Russland müsse durch umfassende Unterstützung der Ukraine, Aufrechterhaltung der Sanktionen und keine Anerkennung russischer Eroberungen in die Schranken gewiesen werden. Russland in Schach zu halten sei „die beste Investition, um Europa wieder zu einem sicheren Ort zu machen.“
Schwachstellen-Analyse
Schmiedings Analyse hat jedoch einige Schwachstellen. Die zentralen lauten:
- Die multipolare Weltordnung reduziert Schmieding auf ein simples „der Westen gegen den Rest der Welt“. Damit ignoriert sein Text die komplexen Beziehungen und Interessen innerhalb und zwischen verschiedenen Regionen und Ländern.
- Die Annahme, dass Demokratien langfristig immer gewinnen, ist optimistisch und nicht immer empirisch belegbar. Gegenbeispiele sind die Weimarer Republik (1919-1933), die Spanische Republik (1931-1939), Chile (1970-1973), Thailand (seit den 2000er Jahren) die Ukraine (2010-2014), Venezuela (seit den 2000er Jahren) oder Argentinien (1040er bis 80er Jahre und zuletzt seit 2000).
- Dass wiederum Autokratien durch wirtschaftliche Zwänge und politische Ineffizienzen zwangsläufig scheitern werden, ignoriert die Fähigkeit einiger Autokratien, sich trotz wirtschaftlicher und politischer Herausforderungen zu behaupten und ihre Macht zu konsolidieren.
- Der starke Fokus auf militärische Antworten und Abschreckung spart andere Formen der Machtprojektion und Konfliktlösung, wie Diplomatie, wirtschaftliche Maßnahmen und internationale Kooperation, weitgehend aus.
- Die Annahme, dass Sanktionen langfristig immer wirksam sind, um Gegner zu schwächen, ist nur bedingt belegbar. Sanktionen haben oft gemischte Ergebnisse, führen selten die gewünschten politischen Veränderungen herbei und schwächen auch jene, die sie durchführen.
- Außerdem geht Schmieding offenbar davon aus, dass Ländern wie China und Russland sich an die vorgeschlagene Strategie nicht anpassen und neue Wege finden können, um ihre Ziele zu erreichen.
- Auch fehlt ein Blick auf technologische Entwicklungen und demografische Veränderungen, obwohl sie erhebliche Auswirkungen auf die geopolitische Landschaft haben können.
Alterung als schwere Bürde
Die Heterogenität der Bevölkerungen und das hohe Durchschnittsalter in heutigen demokratischen Staaten können das Durchhaltevermögen dieser Staaten auf verschiedene Weise schwächen:
- Ethnische, kulturelle und religiöse Spannungen sind schon jetzt an der Tagesordnung. Das kann den sozialen Zusammenhalt untergraben und die Fähigkeit der Regierungen beeinträchtigen, kohärente und konsistente Maßnahmen zu ergreifen.
- Ältere Bevölkerungen neigen dazu, ablehnend gegenüber Veränderungen zu sein. Ein hoher Anteil älterer Menschen führt zudem zu höheren Ausgaben für Gesundheitsversorgung und Renten. Die staatlichen Ressourcen werden zunehmend belastet und es gibt weniger Spielraum für andere Ausgaben wie Verteidigung oder Bildung. Zudem mindert die demografische Entwicklung die Innovationsfähigkeit des Westens.
- Nicht zuletzt verstärkt eine alternde Bevölkerung den Mangel an Arbeitskräften.
Wie demokratisch bleibt der Westen im Zuge der Auseinandersetzung?
Das alles trifft auch Länder wie Russland und China. Die Frage ist, inwieweit Demokratien trotz dieser Herausforderungen ihr System unbeschadet aufrechterhalten, ohne selbst zunehmend autokratische Züge zu entwickeln, wie es tendenziell bereits zu beobachten ist.
Fazit: „Ob der globale Westen den Willen aufbringt, den Bedrohungen durch das lästige Quartett von Autokraten so lange entgegenzutreten, wie es nötig ist, könnte die entscheidende geopolitische Frage für die kommenden Jahre sein.“ Hier folgen wir Schmieding.