Das große Dollar-Rätsel
Europa erlebt „die größte Bedrohung für (seine) Sicherheit und Stabilität seit dem Ende des Kalten Krieges.“
Europa erlebt „die größte Bedrohung für (seine) Sicherheit und Stabilität seit dem Ende des Kalten Krieges.“ So schätzt es der Sprecher des westlichen Verteidigungsbündnisses, NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, ein. Und dennoch flieht niemand in die „sicheren Häfen“ Dollar und Schweizer Franken. Auch die Börsen reagieren kaum. Dafür gibt es drei mögliche Erklärungen: 1. Rasmussen überzieht maßlos und niemand nimmt den Mann ernst. 2. Die Märkte unterschätzen die Gefahr, die von der Krise in der Ukraine ausgeht, völlig. 3. Der Dollar hat seine Funktion als sicherer Hafen eingebüßt. Wahrscheinlich ist an allem etwas dran. Im schlimmsten Eskalationsfall stehen die beiden größten Atomarsenale der Welt – Russlands und der NATO – gegeneinander. Die Märkte sehen diesen Moment aber als so unwahrscheinlich an wie einst die deutsche Wiedervereinigung. Sie glauben zu Recht nicht, dass der Westen für die Ukraine militärisch einen Finger krümmen wird. Dennoch würde ein Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine zu heftigen Diskussionen im Westen führen und diesen in zwei Lager spalten. Scharfe wirtschaftliche Sanktionen wären unumgänglich. Putin-Kritiker glauben gar, dass sogar Lettlands Integrität von Russland bedroht ist. Wird dieses Risiko unterschätzt? Kennt Rasmussen Putins Absichten besser? Seit Monaten diskutieren angesehene Volkswirte das Kurssteigerungspotenzial des Dollar. Die amerikanische Wirtschaft sei robust, die Immobilienmärkte erholten sich, dem Finanzsektor gehe es im Vergleich zum europäischen sehr gut, die Firmen verdienten gut, das Leistungsbilanzdefizit gehe zurück und damit die Notwendigkeit zu Kapitalimporten. Die Zinsen am langen Ende des Anleihenspektrums sind um einen Prozentpunkt höher als in Europa. Und es gibt Zinserhöhungsfantasie durch die Notenbank. Fed-Chefin Janet Yellen sieht einen ersten Zinsschritt im 1. Halbjahr 2015 voraus, wie sie gestern sagte. Gemessen an seiner Kaufkraft müsste der Dollar bei ca. 1,23 Euro stehen. Doch der Dollar kommt nicht vom Fleck. Technisch gesehen marschiert er eher auf 1,45 je Euro zu. Dafür könnte auch eine Rolle spielen, dass es mit dem Euro einen konkurrierenden großen Währungsraum mit frei handelbarer, weltweit akzeptierter Währung gibt. Neu ist der Überlebensschutz, den die EZB dem Euro gegeben hat: 2012 verlieh Mario Draghi der EZB die Funktion des lender of last resort (unbegrenzte Liquiditätsquelle für das Bankensystem). Wird der Dollar als Rückzugsraum nicht mehr gebraucht? Klar ist: Die Devisen- und Aktienmärkte haben Potenzial für schnelle, heftige Richtungswechsel. Unklar bleibt, wann und aus welchem Anlass sie stattfinden. Es gibt keine Anzeichen von Krisenstimmung an den Märkten. Vielleicht stehen wir gerade am Beginn der Dienstmädchenhausse. Dass jetzt ausgerechnet Goldman Sachs die Blue Chips im DAX empfiehlt (siehe Seite 4), darf zu denken geben. Als die Goldmänner den Ölpreis auf 200 Dollar steigen sahen, stiegen sie selbst aus.
Fazit: Wir sehen keinen Grund zum sofortigen Ausstieg aus den Börsen oder Einstieg in den Dollar. Aber wir wappnen uns für eine Trendwende. „Sell in May“ sollte jeder Aktionär als Motto vor Augen haben. Gold ist weiter ein Kauf.