Indien kämpft um seine Block-Unabhängigkeit
Die indische Außenpolitik sieht sich in den kommenden Jahren mehr denn je mit einem Dilemma konfrontiert. Das hält einiges an Konfliktpotenzial bereit. Denn im wieder aufgebrochenen Ost-West-Konflikt wird Indien gemäß seiner außenpolitischen Doktrin weiterhin versuchen eine unabhängige Haltung zu wahren. Daher misst Neu-Delhi dem Ukraine-Krieg auch offiziell keine hohe Bedeutung bei und bewertet ihn eher als regionalen europäischen Konflikt. Die Wahrung der unabhängigen Haltung wird für Indien aber zusehends schwierig, etwa wenn die Russland-Embargos auch indische Unternehmen mittelbar treffen.
Gemeinsamkeiten in der sicherheitspolitischen Ausrichtung
Das Dilemma Indiens besteht darin, dass das Land strategisch „zwischen den Stühlen“ sitzt. Die Nation versteht sich selbst als Großmacht und möchte sich daher weder dem östlichen, noch dem westlichen Block klar zuordnen. Im Hinblick auf die Beziehungen mit dem Westen, teilt man gemeinsame sicherheitspolitische und wirtschaftliche Interessen. Sowohl in der europäischen als auch in der amerikanischen Indo-Pazifik-Strategie (die China als sicherheitspolitischen Kontrahenten sieht) ist Indien der wichtigste Partner. Sowohl der Westen als auch Indien selbst wollen den Einfluss Chinas in der Region begrenzen.
Diese Partnerschaft wird auch gerade durch die EU-Indien-Konsultationen und den Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zur Schau gestellt. China ist das ein Dorn im Auge – Peking betrachtet Indien als einen dem Westen zugeneigten Staat, unabhängig davon, dass Indien selbst ein ganz anderes Selbstverständnis hat.
Streitthema Menschenrechte
Innenpolitisch gibt es zum Westen deutliche Differenzen. Zwar hat Indien mit Nordamerika und Europa die demokratische Staatsform gemeinsam. Aber hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte entfernt sich das hindu-nationalistische Land mit mit fragwürdiger Frauenrechtssituation zusehends von der westlichen Welt.
Auf der anderen Seite ist China Indiens wichtigster bilateraler Handelspartner. 16% der indischen Exporte werden nach Peking geschickt, 6,9% der Importe kommen aus China. Ebenfalls relevant sind die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, der Irak und Hong Kong. Von den westlichen Staaten haben die USA mit einem Exportanteil von 7,2% und einem Importanteil von 17,9% das höchste Gewicht. Deutschland ist Indiens sechst wichtigster Handelspartner.
Russland militärisch wichtigster Verbündeter
Militärisch ist Indien abhängig von Russland. 60% bis 70% des indischen Militärgeräts stammen aus russischer Produktion, erfahren FUCHSBRIEFE von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Russland ist hier ein verlässlicher und günstiger Partner. Diese Abhängigkeit ist in der gegenwärtigen Situation zwar lästig. Daher kauft Indien in jüngster Zeit auch vermehrt Rüstungsgüter aus den USA und Frankreich. Bis es aber zu einem ausgewogenen Verhältnis kommt, braucht es noch Jahre bis Jahrzehnte, so Indien-Experte Christian Wagner von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Außerdem hat Indien mit Russland einen verlässlichen Partner im UN-Sicherheitsrat. Bei Resolutionen in der Kaschmir-Frage unterstützte Russland Indien stets mit einem Veto – das ist für Indien ein überragendes sicherheitspolitisches Interesse. Auch die Zusammenarbeit im Rahmen der Shanghaier Organisation spielt hier eine Rolle (vgl. FB vom 21.12.2020).
Indien "merkelt" sich durch
Indien wird versuchen dieses Dilemma auszusitzen, erklärt Wagner. Im besten Fall, so das Kalkül Neu-Delhis, geht Indien als Nutznießer aus der neuen Ost-West-Konfrontation hervor. Dafür spricht auch, dass China, Russland, die USA, die EU und auch Deutschland selbst Indien „umgarnen“. Die EU und Indien haben jüngst die Einsetzung eines Handels- und Technologierates zur Vertiefung ihrer Beziehungen ins Leben gerufen. Anfang der Woche schlossen Deutschland und Indien eine Wasserstoff-Allianz.
In Menschenrechts-Fragen setzt Indiens Regierung darauf, dass der Westen den wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen mit dem Subkontinent einen Vorrang vor Menschenrechten geben wird. Zudem verweist die Regierung Modi auf ihre Bedeutung als Gegengewicht gegen den wachsenden Einfluss Chinas in der Indo-Pazifik-Region. Das eine andere indische Regierung an dieser Leitlinie etwas ändert, hält Wagner für unwahrscheinlich. In diesen Angelegenheiten bestünde zwischen den großen indischen Parteien Konsens. Dass Menschenrechte in sicherheitspolitischen Fragen oft nur vorgeschoben sind, zeigt auch das Beispiel Venezuela (vgl. FB vom 21.04.2022). FUCHSBRIEFE schätzen daher, dass die westliche Diplomatie wiederholt Menschenrechte ansprechen, sie aber nicht zu einem harten Kriterium ihrer Indien-Politik machen wird.
Aufforderung zu klarem Bekenntnis kann schnell nach hinten losgehen
Dass eine Partei ein klares Bekenntnis zur indischen Bündniszugehörigkeit fordern wird, halten FUCHSBRIEFE für gering. Das widerstrebt dem indischen Selbstverständnis und birgt auch die Gefahr, dass Indien sich dem jeweils anderen Block zuwendet. Allerdings ist bereits jetzt absehbar, dass Indien in der kommenden Zeit vermehrt um Ausnahmegenehmigungen für Ausfuhren in den Westen bitten muss, um als Land, das mit dem Westen als auch mit China und Russland Handel betreibt, nicht direkt von den Sanktionen betroffen zu sein. Auch das enthält reichlich Konfliktstoff.
Wirtschaftlich „hübscht“ sich Indien immer mehr für westliche Unternehmen auf. Das Land schafft gute Rahmenbedingungen für Unternehmen. Das Wirtschaftswachstum ist hoch: Im vergangenen Jahr wurden 9,5% erzielt, in diesem Jahr stehen 8,5% in Aussicht. Große Themen sind der Aufbau einer modernen Infrastruktur, einer verlässlichen Wasserversorgung und nicht zuletzt auch Lösungen zur Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels. Zudem ist Indien mit einer (jungen) Bevölkerung von über 1 Mrd. Menschen ein gigantischer Absatzmarkt.
Fazit: Indien laviert zwischen dem Westen und dem russisch-chinesischen Block, um als Nutznießer des Ost-West-Konflikts im Zuge des Ukraine-Krieges hervorzugehen. Beide Blöcke wollen Indien auf ihrer Seite wissen. Tendiert der Subkontinent aber zu stark zu einer Seite, wird der Streit mit dem Geprellten nicht lange auf sich warten lassen.