Marx verliert die letzte Schlacht
Die europäische Linke liegt am Boden. Und wird sich absehbar nicht mehr erholen. Der Kapitalismus hat endgültig den Marxismus besiegt. Die Begründung gab Karl Marx selbst in seiner Formel: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“ Die Art und Weise wie wir wirtschaften und handeln, verdrängt orthodox-linke Ideen (allen voran die Eigentumsfrage) auf die hinteren Plätze.
Das liegt an der Adaptionsfähigkeit der Marktwirtschaft. Die Philosophin Nancy Fraser – nicht zu verwechseln mit der Bundesinnenministerin Nancy Faeser – hat es als „Progressiven Neoliberalismus“ bezeichnet. Das Konzept dahinter ist an sich nicht neu. In den USA verbündeten sich schon frühzeitig neoliberale und progressive Kräfte – exemplarisch steht dafür die Ära Clinton. Diese Kombination erweist sich als sehr erfolgreich darin, das linksliberale Bürgertum zu befrieden. Die klassisch linken Parteien verlieren an Zuspruch und schaffen es kaum noch, für ihre Forderungen Unterstützung zu finden.
Die Inkorporationskraft der Marktwirtschaft
Heute schafft es die Wirtschaft mehr denn je, die linken „woken“ Themen zu besetzen und für sich zu vereinnahmen. Ein paar Beispiele:
- Amazon fördert explizit Geschäfte, die von schwarzen Personen oder Frauen betrieben werden. Zudem sollen für Filmproduktionen des Streamingdienstes Amazon Prime bei queeren Rollen nur Schauspielerinnen und Schauspieler eingesetzt werden, die diese entsprechende Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung auch teilen. Über die Sinnhaftigkeit und indirekte Diskriminierung durch diese Maßnahme ließe sich lange streiten. Festzuhalten bleibt, dass der Online-Riese Amazon damit Gruppierungen an sich bindet, die womöglich gegen Ungerechtigkeiten auf die Straße gehen könnten, ohne dass dabei Amazons Monopol-Stellung in Frage gestellt wird. Im Gegenteil: Die Abhängigkeiten dieser Gruppen von Amazon nehmen zu.
- Die Grünen haben in ihrer frühen Phase radikal die Frage nach den Eigentumsverhältnissen gestellt – sie waren eine klassisch linke Partei mit einer Menge Umweltschutz im Gepäck. Bis auf ein paar versprengte Fundis stellt die Eigentumsfrage heute so gut wie niemand mehr. Der neue Wirtschaftsminister Robert Habeck bekennt sich explizit zur Marktwirtschaft. Und fordert einen grünen Kapitalismus zur Erreichung der Klimaschutzziele.
- Im Pride Month wird jährlich im Juni auf Diskriminierung und Sichtbarkeit der queeren Community hingewiesen. Unternehmen haben das Thema längst für sich entdeckt und hängen sich dran – mit Sonderangeboten, Regenbogenflaggen und Solidaritätsbekundungen.
- Exemplarisch dafür steht auch das jüngste Mitmachen zahlreicher Firmen bei der Impfkampagne. Konzerne springen auf einem Mehrheitsdiskurs auf, der an und für sich gänzlich geschäftsfremd ist und werben für gesellschaftlich mehrheitlich akzeptierte Maßnahmen.
- Vorbild ist u.a. die Musikindistrie. Sie hat früh angefangen, neue, zunächst unabhängige Stilrichtungen wie HipHop aufzugreifen und sie dann der Kommerzkultur einzuverleiben.
Synthese nach Hegel
Überdeutlich kommt hier die Hegelsche Dialektik zur Anwendung: These + Antithese = Synthese. Der progressive Neoliberalismus ist das Kind aus Marktwirtschaft und progressiven Themen. Die Anziehungskraft linker Parteien sinkt – Wohlstand, Zufriedenheit, das verschwundene Feindbild des „bösen“ Kapitalismus treiben die Wähler in andere Gefilde. Wichtiger sind jetzt die Themen Wohlstandssicherung, Klimaschutz, Innovationen – Themen, die linke Parteien nicht auf ihrer Agenda haben. Damit wird der progressive Neoliberalismus zum Totengräber linker Bewegungen.
Linke Parteien am Boden
Ein Blick in die Parteienlandschaft verdeutlicht die Krise. In Deutschland erreichte die Linke bei der Bundestagswahl 4,9%. Die Eigentumsfrage wird bei SPD und Grünen nur von einzelnen Personen öffentlich gestellt. Der Umgang der Parteien mit dem Berliner Volksentscheid zur Enteignung großer Wohnkonzerne steht exemplarisch dafür. Auch die Ampelkoalition als eine linke Regierung zu bezeichnen, ist, gelinde gesagt, gewagt. Auch die zunehmende Anziehungskraft der FDP auf junge Wähler oder überspitzt gesagt "Jugend ohne Gott gegen Sozialismus", steht für die Krise der Linken.
In Frankreich wird 2022 gewählt – die Linke liegt am Boden. Auch in Italien, Österreich oder Skandinavien sehen linke Parteien „kein Licht.“ In den USA hat es in den vergangenen 70 Jahren keine linke Bewegung im europäischen Sinn mit ernsthaften Machtoptionen gegeben. Lediglich auf der iberischen Halbinsel und in Teilen Südamerikas haben noch klassisch-linke Parteien nennenswerten Einfluss.
Die neuen Koordinaten der politischen Landkarte
Vor diesem Hintergrund lautet die politische Gretchenfrage auch nicht mehr: Bist du Linker oder Rechter? Diese klassischen Kategorien sind heute veraltet – was soll das heute sein? Kaum einer propagiert mehr Lenin oder wünscht sich einen totalitären Führerstaat. Aussagekräftiger, um das politische System heute zu kartografieren, wären Fragen wie: Wie hältst du es mit der staatlichen Autorität? Mehr Nationalstaat oder mehr Universalismus? Setze ich auf staatszentrierten Ökologismus oder die Innovationskraft des Marktes? Mehr Sozialstaat oder mehr Eigenverantwortung?
Fazit: Arbeiterbewegung und Sozialismus sind in den 2020er Jahren endgültig ein Artefakt. Seine Inkorporationskraft und Anpassungsfähigkeit stärken den Kapitalismus. Das geht so weit, dass er sich von der Demokratie entkoppelt und sich auch in autoritären Systemen wie China durchsetzt.