Die Mitte soll's richten
„Epochenbruch, Zeitenwende“. Dies ist der Erzählrahmen, der von nun an die Politik entschuldigen soll, wenn „härtere Jahre, raue Jahre auf uns zukommen“. Dass es nun – zunächst – bergab geht, davon ist Bundespräsident Steinmeier überzeugt: "Die Friedensdividende ist aufgezehrt. Für Deutschland beginne nun eine Epoche im Gegenwind.“ Die Krise inszeniert Steinmeier als deus ex machina, ein Ereignis, das vom russischen Himmel fällt. So schiebt der Bundespräsident die Verantwortung, für das, was kommt, auf die Umstände.
Wir sollen wieder Bescheidenheit lernen
„Diese Krise verlangt, dass wir wieder lernen, uns zu bescheiden.“ Das ist falsch. Nicht diese Krise verlangt das von uns. Es sind vor allem individuelle Entscheidungen – die etwa, Kinder zu haben oder auch nicht – und politische Versäumnisse der Vergangenheit, die uns die Zukunft schwer machen.
Die demografische Bürde, die auf uns lastet und uns nun Jahr für Jahr mehr beschweren wird, wurde mindestens 15 Jahre lang in der Regierungszeit Angela Merkels und im Verein mit der SPD weitgehend ignoriert und zuletzt in der großen Koalition noch einmal verschärft. Weder das Renten-, noch das Gesundheits- und Pflegesystem sind zukunftsfest. Unser Bildungssystem ist ein Trauerspiel: vergleichsweise gut bezahlte Lehrer schicken vergleichsweise schlecht gebildete Schüler ins Leben. Das liegt beileibe nicht nur an den Lehrern, es liegt auch an den Eltern, an der Einstellung der Schüler und der Überforderung in einem Schulsystem, das seine Kernaufgabe, die Bildung, aus dem Blick verloren hat.
Planlos in die Zukunft gegangen
Wir haben die Fundamente unseres Wohlstands vernachlässigt und sind planlos in die Zukunft gelaufen. Wir nehmen immer mehr Menschen auf, ohne zu wissen, wie wir sie integrieren. Wir wenden das Energiesystem, ohne zu wissen, wie wir uns morgen ausreichend mit Energie versorgen. Wir nehmen beständig neue finanzielle Lasten auf unsere Schultern, ohne zu wissen, wer sie abtragen soll. Wir haben an Kriegen in aller Welt teilgenommen, ohne recht zu wissen wofür. Wir haben unsere Verteidigungsfähigkeit Richtung null gebracht und unsere Energie auf Genderfragen konzentriert. Das waren die Entscheidungen hiesiger Politiker, nicht des russischen Staatspräsidenten. Der befeuert unsere Wohlstandskrise, aber er hat sie nicht verursacht.
Wer sind diese "Wir"?
Doch so klar Steinmeier anspricht, dass "wir" künftig kleinere Brötchen backen sollen, so wenig sagt er, worauf „wir“ künftig verzichten müssen. Auf warme Zimmer, weiche Betten, ein eigenes Auto, auf Urlaub, ein funktionierendes Gesundheitssystem, auskömmliche Renten, ein die Würde alter Menschen wahrendes Pflegesystem, auf einen funktionierenden Staat, auf hinreichend Netto vom Brutto, auf das Recht an Eigentum? Und wer ist dieses „Wir“ in unserer kunterbunten Gesellschaft, die jedes Jahr um Hunderttausende wächst, die hier noch gar nicht richtig angekommen sind?
Steinmeier hinterlässt zahllose Fragezeichen (auf die meisten kann ich hier nicht eingehen). Sie führen seine Rede weit weg von dem, was sie doch wohl sein sollte: Eine Rede, die Mut macht. Mut kann der Mensch nur dann fassen, wenn er klar vor Augen hat, was auf ihn zukommt. Steinmeier hüllt seine Aussagen aber an den entscheidenden Stellen in schemenhafte Andeutungen: „Es ist eine Zerreißprobe, die uns auch keiner abnimmt und für die es keinen einfachen Ausweg gibt.“
Nur einmal wird der Bundespräsident deutlich
Nur einmal wird Steinmeier deutlich, als er sagt: „Vertrauen wir auf die starke Mitte unserer Gesellschaft!“ Auf jene, „die in den Jahren des Rückenwinds auch zu Wohlstand und Sicherheit gekommen sind. Sie können sich einschränken, ohne dass existenzielle Not entsteht.“