Im Zukunftszug fröhlich in der 2. Klasse
Alle reden vom Wetter. Wir nicht. Das war die Deutsche Bahn. In den 1960er Jahren. Der Werbeslogan war für mich ein Symbol, dass ein komplexes System zuverlässig funktioniert. So wie Deutschland eben. Damals. Aber damals fuhr die Bahn mit stinkigem Diesel. Heute fährt sie mit sauberem Strom!
Es war die Zeit, als die deutschen Großbanken, Dresdner Bank – die älteren unter unseren Lesern werden sich erinnern –, Commerzbank und vor allem Deutsche Bank Symbole des Kapitalismus, der Deutschland AG und Hassobjekte linker Terroristen waren. Es war eine Zeit, als viele sich wünschten, es möge doch ein wenig italienische Leichtigkeit auf die hiesige verkrustete, griesgrämige Gesellschaft abfärben.
Oskars "Sekundärtugenden"
Dieser Hang zum Perfektionismus, ja zum Kleinkarierten, wurde zur Zielschiebe der Linken. Er galt als spießig – und gefährlich. Oskar Lafontaine, damals SPD-Chef im Saarland, formulierte 1982 im Magazin "Stern", mit den Sekundärtugenden "Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit" könne man "auch ein KZ betreiben".
Diese Sorge dürfte den Altlinken Lafontaine wohl nicht mehr umtreiben. Wer heute pünktlich und zuverlässig Bahn fahren will, der muss in die Schweiz ziehen. Großflughäfen werden in Deutschland nach schlappen 30 Jahren Planungs- und Bauzeit fertig, wenn sie nicht mehr gebraucht werden.
Organisationsweltmeister: Das war einmal …
Wie sich Massenimpfungen organisieren lassen, wird sich wohl niemand in Deutschland anschauen wollen. Und auch nicht in Brüssel, wo eine Deutsche gerade die Fäden zieht. Das Bundesland Brandenburg führt höchstens vor, wie man es nicht machen sollte: Das Land beordert „seine“ Impflinge ins Impfzentrum in Potsdam. Für viele ist das eine Tagesreise mit Bus und Bahn. Organisieren sollen das die über 80-jährigen, die primär geimpft werden sollen, selbst. Da schütteln nicht nur die Leiter von Pflegeheimen den Kopf.
Keine Angst vor deutschem Perfektionismus
Aber auch an vielen anderen Stellen muss niemand mehr deutschen Perfektionismus fürchten. Die hiesige Geldwäschebehörde verschläft es, zahlreichen Verdachtsmeldungen im größten Betrugsfall der deutschen Wirtschaftsgeschichte, dem Fall Wirecard, nachzugehen. Die Finanzaufsicht BaFin deckt zunächst die Betrüger, und ihre Mitarbeiter scheinen aus dem Betrugsfall noch persönlichen Profit geschlagen zu haben. Der zuständige Minister hat erst nach langem Zögern den Behördenchef gefeuert und will jetzt Bundeskanzler werden.
Erfolgreich im Kleinen, erfolglos im Großen
Deutschlands Steuerbehörden haben zwei Jahrzehnte lang erfolgreich Jagd auf hiesige Steuerhinterzieher gemacht – mit geklauten Adressdaten.
Grenzüberschreitende Steuergestaltungen sind heute meldepflichtig. Aber bei den internationalen Digitalkonzernen mit ihren gewaltigen Steuerverschiebemöglichkeiten hat der Fiskus resigniert.
Eldorado für Geldwäscher
Dafür gilt Deutschland heute als Eldorado für die Organisierte Kriminalität (OK) und internationale Geldwäsche. Während die großen Geldströme der OK munter fließen dürfen, kommen die Corona-Beihilfen für die hiesigen Klein- und Mittelbetriebe lange Zeit nicht an. Auch der Kinderbonus für die Familien lässt auf sich warten.
Doch nicht nur der deutsche Staat hat heute viel von italienischer Leichtigkeit angenommen. Auch die hiesigen Unternehmen strengen sich an. Die deutschen Großbanken sind entweder von der Bildfläche verschwunden (Dresdner), in Abwicklung (Commerzbank) oder erregen Mitleid (Deutsche Bank). Baute Opel vor einigen Jahrzehnten „Technik, die begeistert“, hat die einstige Vorzeigemarke Audi nicht nur ihren "Vorsprung durch Technik" eingebüßt, sondern auch ihr Renommee: wegen der Fälschung von Abgaswerten. Und wer heute sehen will, wie man Einzelhandel reibungslos organisiert, der muss bei Amazon vorbeischauen.
Reste von "Großmannssucht" sind geblieben
Dennoch: Über ein Merkmal muss man sich immer noch Gedanken machen, die „deutsche Großmannssucht“. Zumindest Reste dieser unschönen "Volkseigenschaft" haben sich gehalten. Haben wir gestern noch unsere Nachbarn zum Sparen angehalten, retten wir jetzt Europa mit unseren Steuergeldern und lösen im Eiltempo die Ausgabenbremsen.
Wenn Europa Zielwerte für die Beimischung von sauberen Alternativkraftstoffen im Verkehrssektor vorgibt, verdoppelt die Bundesregierung diese mal eben. Obwohl der Kanzlerin europaweit gemeinschaftliches Handeln eigentlich heilig ist – wenn es darum geht, die hiesige Wirtschaft für ihre Lieferketten in die Verantwortung zu nehmen, geht die Bundesregierung einfach mal vorweg. Wir fahren zwar im Zukunftszug nur 2. Klasse, aber wollen wenigstens noch die Weichen stellen.
Überholen ohne aufzuholen
Auch für die hiesigen Unternehmen ist Bescheidenheit keine Zier: Zwar fährt beim Image und erst recht beim Aktienkurs Audi der US-Marke Tesla weit hinterher. Doch Konzernchef Markus Dussmann will mit Audi nicht nur aufholen, sondern Tesla überholen.
Ja, es ist richtig, sich ehrgeizige Ziele zu setzen. Aber man sollte den Blick für die Grundlagen nicht verlieren. Ich habe oft den Eindruck, als der Zukunftszug aus dem deutschen Bahnhof rollte, standen viele in Politik und Wirtschaft am falschen Gleis. Und weil die Anzeige nicht gewechselt hat, glauben sie, der Zug käme noch vorbei.
Sehen wir es dennoch positiv: Zwar haben wir unsere Systeme so verkompliziert, dass wir sie offensichtlich nicht mehr beherrschen. Aber wir resignieren nicht, sondern nehmen es mit italienischer Leichtigkeit und großem Selbstbewusstsein. Zumindest diese Challenge haben wir gemeistert, findet Ihr Ralf Vielhaber