Mit Freiheit nichts am Hut
Die Politik offenbart gerade ihre ganze Hilflosigkeit, aber auch Dreistigkeit im Umgang mit der Pandemie. Und führt dazu eine unehrliche Diskussion. Voran geht unser Außen- und ehemaliger Justizminister Heiko Maas (SPD). Sein Vorstoß, geimpften Personen ihre „Freiheitsrechte zurückzugeben“, ist nur allzu durchsichtig. Die gesamte Begründung baut, wie so vieles in der derzeitigen Strategie, auf Sand statt Fakten.
Wir haben mit der Redaktion alle wissenschaftlich relevanten Institutionen „abgeklappert“, um zu klären, was es mit der Diskussion auf sich hat. Von Rudolf-Koch-Institut (RKI, über Paul-Ehrlich-Institut (PEI), das European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC), einzelnen Pharmaherstellern, Gesundheitsministerium bis hin zur WHO. Ergebnis: Es ist bisher eine reine Vermutung, dass geimpfte Personen weniger ansteckend sind als nicht geimpfte. Weil ihr Immunsystem Antikörper entwickelt, kann sich das Virus zwar dennoch festsetzen, aber nicht so stark ausbreiten, so die These.
Wo beliebt die "Freiheit" für Infizierte und Genesene?
Doch das gilt wahrscheinlich ebenso für bereits infizierte Personen und erst recht für Erkrankte und Genesene. Auch sie nehmen daher „niemandem mehr ein Bett auf einer Intensivstation weg“ (Maas). Sie müssten also ebenfalls von den Pandemie-Restriktionen ausgenommen werden, wenn es wirklich um eine Diskussion um die Freiheitsrechte ginge. Doch davon ist bisher nicht die Rede. Es gibt immerhin mehr als 2 Mio. „Ex-Infizierte“, aber erst etwa halb so viele Geimpfte. Und das auch erst mit der ersten, noch nicht hinreichend wirksamen Dosis.
Tatsächlich wollen Maas und immer größere Kreise im Kabinett die Impfpflicht durch die Hintertür durchsetzen. Denn sie sind mit ihrem Latein am Ende. Beim bisherigen Fortgang des Impfgeschehens wird sich an der von uns vorhergesagten Stop-and-Go-Pandemiepolitik mindestens bis zum Sommer nichts ändern. Sollte die freiwillige Impfbereitschaft nicht steigen, voraussichtlich noch deutlich länger.
Das Versprechen umgehen
Dass die Impflicht nicht offen gefordert wird, liegt einmal am selbigen Versprechen des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn (CDU). Und an der bevorstehenden Bundestagswahl. Möchtegern-Kanzler Markus Söder (CSU), im eigenen Land auch nicht gerade erfolgreich in der Pandemiebekämpfung – auf 1 Mio. Einwohner kommen 665 Todesfälle „mit und an Corona“, im wesentlich dichter besiedelten NRW sind es 509 – will das Versprechen einfach mit einer Impfpflicht für Berufsgruppen teilweise umgehen.
Für die „bockigen“ Pflegekräfte habe ich viel Verständnis. Sie möchten informiert statt befohlen werden. Dass sich mündige Bürger nicht einfach als Versuchskaninchen hergeben, ist ein Zeichen gesunder Skepsis gegenüber Autoritäten, wie sie diese Gesellschaft seit Jahrzehnten eingeübt hat.
Vermutungen statt Fakten
Wie wenig die Bundesregierung für die Freiheit ihrer Bürger tatsächlich noch übrig hat, zeigt sich auch an einer anderen Beobachtung. Der nächste, nochmal deutlich verschärfte, Lockdown im Februar wird mit reinen Vermutungen begründet. Bisher orientierte sich die Politik bei ihren Entscheidungen an Werten wie 7-Tage-Inzidenz, R-Wert, der Anzahl der Intensiv-Patienten. Auch, wenn man diese Kriterien an sich in Frage stellt, so sind sie doch wenigstens ein Maßstab.
Doch genau die bisher gültigen Maßstäbe zur Beurteilung der Krise erlauben eine Verschärfung des Lockdowns nicht. Die 7-Tage-Inzidenz in Deutschland ist seit Tagen rückläufig. Seit ihrem Hoch seit dem Jahreswechsel ist sie von 200 auf unter 139 gesunken. In den Problemländern Sachsen, Thüringen und Bayern fällt die Inzidenz sogar sehr steil ab. In einer Mehrzahl von Landkreisen fällt die Inzidenz in Richtung 50 zurück.
Schon wieder ein neuer Maßstab
Das RKI orientiert sich inzwischen aber an einer Inzidenz von 25. Alles was darüber liegt, bezeichnet das dem Gesundheitsministerium angeschlossene Institut als „erhöhte Inzidenz“. Die Zahl der Corona-Patienten auf Intensivstationen ist ebenfalls rückläufig und von über 5.200 auf unter 5.000 gefallen. Nur noch wenige Landkreise zeigen eine rote Warnlampe bei den freien Intensiv-Betten.
Darum zaubert das Corona-Kabinett für die Einschränkungen nun einen neuen Maßstab aus dem Hut. Kanzlerin Angela Merkel malt ein „düsteres Bild“ wegen der Corona-Mutation B.117 an die Wand. Die viel ansteckendere Variante könnte das Gesundheitssystem schnell überlasten.
Auf Daten-Sand gebaut
Derartige Ahnungen basieren auf Modellen und Prognosen – aber nicht auf Fakten. Zur Verbreitung der neuen Variante gibt es kaum Zahlen. Nicht einmal das RKI hat aussagekräftige Erkenntnisse zur Mutation. Das Institut ermittelt seit Tagen nicht einmal mehr den R-Wert, weil „nicht genügend Daten vorliegen“. Es kann also keine Aussage dazu treffen, wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt.
Dennoch will man Wirtschaft und Gesellschaft zum totalen Stillstand nötigen. Von VW, einem politisch relevanten Unternehmen, hören wir, dass es schon jetzt massiven Druck seitens der Politik gibt, die „Produktion im Februar vollständig einzustellen.“ Auch die Berliner Verkehrsbetriebe sollen sich „darauf einrichten, ab Februar einen massiv reduzierten Fahrplan“ anzubieten.
Autoritäre Züge in Politik und Gesellschaft
Nein, Deutschland ist nicht Russland oder China. Aber es ist gegen autoritäre Anwandlungen nicht immun. Dass ausgerechnet die Generation der (politische meist grünen) antiautoritären Erzieher jetzt oftmals besonders aggressiv Gehorsam gegenüber staatlichen Anordnungen einfordert, ist dabei mehr als eine Randnotiz. Sie beweist, dass es ihnen gar nicht ums Prinzip geht, sondern um Macht.
Der hiesige Umgang mit der Pandemie zeigt, „dass nicht wenige Politiker im Bürger mehr Untertan als Souverän sehen.“ Das hat schon der Kollege Eric Gujer von der NZZ richtig bemerkt. Dem kann ich nur beipflichten, meint Ihr
Ich danke meinem Kollegen Stefan Ziermann für seine Unterstützung bei der Recherche. Wir werden uns zukünftig beim wöchentlichen Kommentar abwechseln.
Ralf Vielhaber