Wahl ohne Kampf
Nach menschlichem Ermessen ist die Wahl 2021 gelaufen. Mindestens seit 1998 – so lange habe ich zurückgeblickt – stand der Wahlausgang stets im August fest. Nicht punktgenau natürlich, aber die Rangfolge der Parteien von Anfang August war auch weitestgehend die am Wahltag. Das gilt durchgehend für die vier Parteien, die einen Kanzlerkandidaten aufgestellt haben: CDU/CSU, SPD, Grüne.
Was ebenfalls auffällt: CDU/CSU und SPD verloren meist auf den letzten Metern, die Union zum Teil sehr deutlich. Dennoch reichte es stets, die Platzierung zu halten. Bei den Grünen hat sich in den letzten beiden Monaten vor der Wahl nicht mehr viel getan. Sie hatten ihr Potenzial immer bei 8 bis 9% ausgeschöpft. (Eine tabellarische Übersicht finden Sie in weiter unten.)
Immer für eine Beinahe-Überraschung gut: Gerhard Schröder
Die größten Überraschungen lieferte der geborene Wahlkämpfer Gerhard Schröder. Sowohl gegen Edmund Stoiber, mit dem er 2002 nach einem 9-Punkte-Vorsprung des Bayern am Wahltag noch gleichzog (38,5%). Und gegen Angela Merkel, die bei ihrer ersten Wahl 2005 von 45% Anfang August auf 35,2% am Wahltag abrutschte, während Schröder sich von 26% auf 34,2% hocharbeitete.
Was ist diesmal anders? Die Union hat bereits unter Merkel in zwei Lagern Wähler verloren: an die Bürgerlichen, die sichtbar zu den Grünen gewandert sind. Und bei den (National-)Konservativen, die das Wählerpotenzial der AfD mit speisen. Das heißt: Die Grünen liegen derzeit weit über ihrem Stammwählerpotenzial. Ob das nur „Leihstimmen“ sind, wie sie etwa 2009 insbesondere an die FDP gingen, oder dauerhafte Zugewinne, darüber dürfte die Ausrichtung der CDU unter Armin Laschet bestimmen; ebenso, wie sich die Grünen in der Regierung verhalten werden, die sie voraussichtlich mit der Union bilden.
Laschet hat noch ausreichend Vorsprung
Armin Laschet dürfte sich also trotz der vielen Ungeschicklichkeiten – Merkel leistete sich 2005 nicht weniger – ins Kanzleramt schleppen. Einen Gegner wie Schröder hat er nicht zu fürchten. Dem wäre jedenfalls nicht eingefallen, die Mehrheit der Wähler mit Gendersprache in Gesetzestexten gewinnen zu wollen, wie die Grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock. Und der Vorsprung der Union zu den Grünen ist mit sieben Prozentpunkten groß genug, um noch den einen und anderen kleinen Patzer des wenig beliebten Unions-Kandidaten Laschet aufzufangen. Auch da hat dieser viel mit Merkel und der Union 2005 gemein. Bis hin zu einem in der eigenen Ehre verletzten bayerischen Nöler: damals Stoiber, der glaubte , Merkel antreiben zu müssen, heute Söder, der meint, Laschet Dampf machen zu müssen.
Die SPD hat sich bei 16% festgefressen. Und das „Umfragehoch“ für den „Kanzlerkandidaten“ Olaf Scholz ist kein wirklicher Zustimmungswert. Irgendjemanden muss ich ja wählen, denkt sich der Wahlbürger, und da gilt Scholz im Moment als das kleinste von drei Übeln. Ein Kandidat der Herzen ist er nicht.
Hat die Scholz-SPD Chancen auf die Kanzlerschaft?
Nein. Wie sollte das gehen? Dazu müsste die SPD die Grünen überholen und braucht die Lindner-FDP, die sich in diesem Verbund politisch ziemlich verbiegen müsste. Das aber hat Lindner ausgeschlossen.
Dann eher Grün-Rot-Gelb. Damit würde sich die SPD endgültig in die Rolle einer Mehrheitsbeschafferin bugsieren. Und für die FDP gälte auch in dieser Konstellation: drittes Rad am linken Wagen.
Drei Leichtmatrosen
Derzeit konkurrieren drei Leichtmatrosen darum, ans Steuerrad des Tankers Deutschland zu gelangen. Annalena Baerbock stand bisher nur am Schiffssimulator am Steuerrad (oder mittlerweile Joystick). Schon bei leichtem Wellengang hat sie im Wahlkampf das Ruder verrissen. Welcher Passagier will sich ihr anvertrauen? Olaf Scholz hat immerhin schon mal die Süßwasserjacht Hamburg gesteuert und zeigt sich als ausgesprochen spendabler Finanzminister. Laschet macht seine Sache beim Schubschiff NRW immerhin ganz ordentlich. In schwere See möchte man mit keinem von den dreien geraten.
Der Wellengang aber wird in den nächsten vier Jahren sehr unruhig werden. Rente und Pflege müssen dringend reformiert werden. Keine Partei sagt wirklich, wie. Die Finanzen müssen wieder ins Lot gebracht werden. Setzt sich die Inflation fest, wird es im Euroland mehr als spannend. Die Energiewende kommt in die entscheidende Phase. Wichtige Energielieferanten (Kernkraft, Kohle) werden zurückgefahren oder ganz vom deutschen Netz genommen. Die Energiepreise steigen weiter. Das birgt sozialpolitischen Sprengstoff.
Langweiliger Wahlkampf
Der Wirtschaft fehlen zunehmend Fachkräfte, wenn die Baby Boomer jetzt peu á peu in Rente gehen. Deutschland und Europa sind im internationalen Wettbewerb deutlich zurückgefallen. Europa dümpelt führungslos und ziellos dahin. Das Klimathema überdeckt nur die derzeitige Perspektivlosigkeit des Kontinents. Der Klimawandel dient als allseits willkommene, pauschale Begründung für munteres Schuldenmachen. Und gesellschaftlich ist vieles im Argen. Der oft beschworene Wertekonsens, existiert der überhaupt noch? Gender, Einwanderung, Impfen – in den heiß diskutierten Themengebieten zeigt sich eine gespaltene Gesellschaft.
Dennoch erlebe ich einen der langweiligsten Wahlkämpfe, seit ich beruflich Wahlen beobachte – seit mehr als dreißig Jahren also. Es ist eine Wahl ohne Kampf und ohne Kämpfer. Es ist auch keine Wechselstimmung zu spüren. Die gab es zuletzt 1998, als Deutschland des ewigen Kanzlers Helmut Kohl zutiefst überdrüssig geworden war und Rot-Grün mit dem Duo Schröder/Fischer einen Lagerwahlkampf aufgezogen hatte. Einen solchen gibt es nicht. Der Wähler erwartet beinahe schon resigniert Schwarz-Grün. Eventuell plus Gelb. Ich auch.