Wahlkampf der Extreme
Der Wahlkampf um die 67. Präsidentschaft der USA wird wieder spannend – und noch radikaler. Joe Biden hat Kamala Harris als seine Nachfolgerin empfohlen, nachdem er am Sonntag um 14 Uhr Ortszeit auf Elon Musks Kurznachrichtenkanal X die Aufgabe seiner erneuten Kandidatur bekannt gab. Bidens Spendenlink, über den bereits 100 Millionen Dollar gesammelt wurden, ist nun auf Harris umgestellt. Sie ist die Einzige unter den Demokraten, die über das Spendengeld verfügen kann, da Präsident und Vizepräsident als Einheit betrachtet werden. Harris' mögliche Kandidatur wurde seit Bidens misslungenem TV-Auftritt hinter den Kulissen vorbereitet. Man musste nur noch den als stur geltenden Präsidenten und seine Familie überzeugen, dass er freiwillig zurücktritt. „Angenommen“ hat sie bereits. „Ich fühle mich geehrt, die Unterstützung des Präsidenten zu haben, und meine Absicht ist es, diese Nominierung zu verdienen und zu gewinnen“, sagte sie in einer Erklärung am Sonntag.
Ich glaube nicht, dass in den verbleibenden knapp vier Wochen bis zum Nominierungsparteitag der Demokraten am 19. August ein weiterer Kandidat auftaucht. Michelle Obama würde es nur widerwillig tun, und Hillary Clinton möchte nicht noch einmal gegen Trump verlieren. Gavin Newsom, der Gouverneur von Kalifornien, hat zwar die Unterstützung von Hollywood, müsste aber erst Harris „aus dem Weg räumen" und er bräuchte schnell viel Geld für seinen Wahlkampf. Weitere Kandidaten sind denkbar, aber unrealistisch.
Umfragen sind Schall und Rauch
Zwar hat die 59-jährige Harris in Umfragen ähnlich schlechte Werte wie Biden und viele Demokarten zweifeln an ihr. Schließlich trägt sie die Bürde der Verantwortung für die Fehler in Bidens Amtszeit mit. Aber Umfragen sind irrelevant, wenn sich die Situation ändert. Sollte Biden diese Woche auch noch das Präsidentenamt an Harris übergeben, würden die Karten im Wahlkampf neu gemischt. Harris wäre die erste Frau und Schwarze an der Spitze der USA. Wenn sie die 52-jährige, weiße Gouverneurin von Michigan, Gretchen Whitmer, als Vizepräsidentin nominierte, wäre der Wahlkampf der Gegensätze perfekt: Hier das reaktionäre Männergespann Donald Trump und J.D. Vance, dort das linksradikale Damen-Duo Harris/Whitmer.
Ich glaube nicht, dass die Demokraten das Blatt noch wenden können. Deshalb war es war ganz sicher ein Fehler von Kanzler Olaf Scholz, Donald Trump nach dem Attentat vom letzten Wochenende keine persönliche Nachricht des Bedauerns zu senden oder direkt mit ihm zu sprechen. Damit hat Scholz unserem Land geschadet. Aber die Chance auf ein spannendes Rennen ist eindeutig gewachsen.
Politisch eine Sorge weniger für Europas Regierungen – wenn Harris das Unmögliche möglich macht
Politisch könnte eine Präsidentin Harris den Europäern die größte Sorge nehmen: den Verbleib in der NATO und die militärische Unterstützung der Ukraine. „As long as it takes“, so lange wie nötig, ist ihr Motto. Wirtschaftlich und an der Börse dürfte es jedoch turbulent werden, wenn ihre Chancen in den Umfragen steigen. Denn wie Donald Trump würde auch Kamala Harris eine ausgabenfreudige Präsidentin sein, wenn auch mit ganz anderen Schwerpunkten (sozialer Wohnungsbau, garantiertes Einkommen für die Mittelschicht, leichtere Kapitalbeschaffung für KMU).
Trump kann in diesem neuen Wahlkampf der Extreme nicht so weitermachen wie gegen Biden. Mit ordinären verbalen Ausfällen dürfte er vor allem Wählerinnen verprellen. In dieser neuen Konstellation ist er womöglich selbst sein mächtigster Gegner, meint Ihr Ralf Vielhaber