Wissenschaft zunehmend politisiert
Die wissenschaftsbasierte Ökonomie gerät immer mehr in politisches Fahrwasser. Anlass ist der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Im Mittelpunkt stehen die massiven Vorwürfe des US-Ökonomen Jeffrey Sonnenfeld (Yale) gegen den IWF. Er habe seine aktuelle Russland-Prognose auf Basis lückenhafter und zweifelhafter Daten erstellt und komme auch noch zum selben Ergebnis wie die russische Zentralbank: nämlich auf eine Schrumpfung von -6%. Im April hatte der IWF noch prognostiziert, 2022 werde die Rezession der russischen Wirtschaft 8,5 Prozent erreichen.
"Nicht nachvollziehbar"
Nachvollziehbar sei die IWF-Berechnung jedoch nicht. Auch gehe sie mit keinem Wort auf die von Russland nicht mehr weitergeführten oder lückenhaften Statistiken ein, u.a. zu Ex- und Importen, die Öl- und Gas Produktion, Kapitalzu- und -abflüsse u.v.a.m.
Sonnenfeld hat sich wiederum angeschaut, wie viele Unternehmen sanktionsbedingt Russland verlassen haben. Sie hätten für satte 40% der russischen Wirtschaftsleistung gestanden. Das ist ein durchaus schlagendes Argument für einen noch kräftigere Rezession. Doch die übrige Datenbasis ist eben auch für Sonnenfeld nicht besser als für den IWF (und uns). Insofern haben auch seine Einlassungen einen politischen Beigeschmack: Er will die Sanktionspolitik des Westens gegen Russland rechtfertigen.
Auch unzureichende Annahmen können zu einem richtigen Ergebnis führen
Die Auflösung könnte sein: Der IWF schreibt verfügbare Zahlen einfach linear fort – das tun die meisten Ökonomen. Insofern könnte er zunächst mit seiner Prognose durchaus richtig liegen (selbst wenn sie nur bedingt nachvollziehbar ist). Der Einbruch durch den Firmenexodus dürfte sich erst später zeigen. Und dauerhaft.
Helaba-Chefvolkswirtin macht Rückzieher – mit problematischem Argument
Die Chefvolkswirtin der Helaba, Gertrud Traud, folgt wiederum dem IWF. Sie glaubt, der Westen habe die Verletzlichkeit Russlands überschätzt und die Bedeutung der russischen Rohstoffe für die Welt unterschätzt. Die Sanktionen schadeten Deutschland und der ganzen Welt mehr als Russland.
Inzwischen zog Gertrud Traud ihren Kommentar in einer Erklärung auf der Helaba-Internetseite aber zurück. Sie habe die „politisch-moralische Dimension der Sanktionen“ nicht berücksichtigt. Eine abschließende Beurteilung der Sanktionen allein auf Basis der von ihr gewählten ökonomischen Aspekte sei nicht angemessen.
Annahme durchaus plausibel
Schaut man wiederum auf den Rubelkurs, wird Trauds Annahme plausibel. Der Rubel hat nicht nur kräftig zugelegt: Von seinem Tiefpunkt im März bei 121 Rubel je Euro, ist er inzwischen auf 61 zurückgekommen und hält sich hier sehr stabil. Der Kurs liegt damit auch deutlich höher als vor dem Ukrainekrieg und dem Einsetzen der Sanktionen. Daher ist die Aussage im „World Economic Outlook“ des IWF, die russische Inlandsnachfrage habe sich als ziemlich widerstandsfähig erwiesen, weil die Auswirkungen der Sanktionen auf den Finanzsektor eingedämmt werden konnten, durchaus plausibel.
Und noch ein Aspekt darf nicht übersehen werden. Russlands Landbevölkerung betreibt immer noch in weiten Teilen Subsistenzwirtschaft. Das Leben auf dem Lande und damit weiter Teile der Bevölkerung, tangieren die westlichen Sanktionen nur peripher. Kurz: Es juckt sie nicht, wenn Starbucks dicht macht.