Die SPD, die Macht und das deutsche Parteiensystem
Dem deutschen Parteiensystem steht eine äußerst kritische Phase bevor. Die Auflösung der überkommenen Mehrheitsverhältnisse ist denkbar. Die heimliche Führerin der Sozialdemokraten, Andrea Nahles, muss nur ausreichenden Willen zur Macht haben, dann kann sie die SPD auf Augenhöhe zur Union bringen, wenn auch auf unorthodoxe Weise. Das Szenario:
Die CDU unter Angela Merkel hat sich in eine missliche Lage taktiert. Sie hat die GroKo für alternativlos erklärt. Die SPD kann in den Verhandlungen sehr selbstbewusst auftreten – und neue Forderungen stellen. Sie kann wiederum darauf wetten, dass die CSU im Angesicht der Bayern-Wahl rote Linien kennt und Schmerzgrenzen hat, die es auszureizen oder zu überreizen gilt.
Überzieht die SPD – vielleicht mit Absicht –, ergibt sich eine völlig veränderte Lage. Man bringt die Kanzlerin selbst dazu, die Verhandlungen für gescheitert zu erklären. Der GAU für die Union. Das strategische Ziel der SPD-Führung könnte lauten: Wir kommen zwar selbst nicht mehr auf 30%. Aber wir bringen die Union auf Augenhöhe, knapp über 20%. Dann ergeben sich völlig neue Mehrheitsoptionen.
Rücktritt der Kanzlerin
Variante 1: Die Kanzlerin tritt zurück. Es gibt Neuwahlen innerhalb von 60 Tagen. Dann steht eine ganze Politikergeneration in SPD wie in Union zur Disposition. Und wie beide ehemaligen Volksparteien aus dieser Wahl herauskommen, erst recht, wenn die Führung (Merkel bei der CDU, Seehofer bei CSU, Schulz bei der SPD) komplett ausgetauscht wird, steht in den Sternen.
Doch die Kanzlerin kann nur mit Gesichtsverlust sofort auf Neuwahlen bestehen. Denn nach wie vor besteht die demokratische Option einer Minderheitsregierung. Dazu muss sich die Union aber ähnlich verbiegen, wie sie es zuvor von der SPD verlangt hat.
Regierung mit wechselnden Mehrheiten
Variante 2: Die Union regiert mit wechselnden Mehrheiten. Dann dürfte die AfD die Gunst der Stunde nutzen und sich – etwa bei der Abstimmung über den nächsten Haushalt – staatstragend geben. Die FDP ebenfalls. Das würde die Union in ein Dilemma stürzen. Es würde sich eine Machtoption zeigen, die sie nicht will.
Doch die SPD kommt auch selbst unter Druck. Die Linke mit Sahra Wagenknecht-Lafontaine nutzt die Gunst der Stunde. Durchaus geschickt will sie eine linke Sammlungsbewegung initiieren. Die Vorbilder heißen Macron (in Frankreich) und Kurz (in Österreich). Das Potenzial ist da, die SPD ist innerlich gespalten.
Anschluss an eine Bewegung
Der Anschluss an eine Bewegung erfordert, anders als ein Parteiwechsel, keinen „Verrat". In Frankreich hat Macrons Sammlungsbewegung en marche die Sozialisten pulverisiert. Und das Gespann WagenknechtLafontaine hat die Chuzpe darauf hinzuarbeiten.
Das Ziel: Es soll auch das an die AfD verlorene Protestpotenzial von rechts angesprochen werden. Mindestens 3%, möglicherweise auch 5 bis 7% der Wähler sollen so zusätzlich gewonnen werden – und damit eine Regierung links von der Mitte möglich werden.
Fazit: Es wird immer deutlicher, wie einschneidend das Ergebnis der Bundestagswahl im September wirkt. Die Folgen lassen sich vielleicht noch mal mit einer GroKo übertünchen, á la longue kommen sie zum Vorschein. Die bürgerlichen Mehrheiten der alten Bundesrepublik sind Schnee von gestern.