Überrumpelungsstrategie vor der Wahl?
Friedrich Merz hat jüngst mit dem sogenannten „Zustrombegrenzungsgesetz“ einen überraschenden und strategisch ausgeklügelten Impuls in den Bundestag eingebracht. Zwar wurde der Gesetzesentwurf des CDU Parteivorsitzenden und Fraktionsvorsitzenden von CDU/CSU im Bundestag letztlich abgelehnt. Doch habe er als politisches Instrument, das weit über den konkreten Inhalt der Regelung hinausreicht, gedient. Dieser Meinung ist der Spieltheoretiker Prof. Christian Rieck. Rieck ist Professor an der Fachhochschule Frankfurt University of Applied Sciences und dort Studiengangsleiter für International Finance.
Die Strategie im Spiegel vergangener Taktiken
Rieck zieht eine klare Parallele zwischen Merz’ Vorgehen und den Methoden, die Angela Merkel in ihrer langen Amtszeit anwandte. Merkel habe über Jahre hinweg die CDU durch scheinbar unschuldige, aber strategisch tiefgreifende politische Schritte in eine bestimmte Richtung gelenkt. Jetzt, so die Argumentation, sei Merz in der Lage, diese Taktiken –in perfekter Inszenierung – zu übernehmen und damit den längst überfälligen Machtwechsel innerhalb der Partei einzuleiten.
Ein Gesetz als Katalysator für Debatten und parteiinterne Neuorientierung
Der Gesetzesentwurf zur Zustrombegrenzung enthält inhaltlich triviale Regelungen. Darunter die Wiedereinführung eines Begriffs im Aufenthaltsgesetz, die Einschränkung des Familiennachzugs für geduldete Migranten mit nur vorübergehendem Aufenthaltsstatus oder die Unterstützung der Bundespolizei bei Abschiebungen. Inhaltlich sind diese Punkte banal. Ihre politische Wirkung liege, so Rieck, in der Art und Weise, wie Merz sie instrumentalisiert: Der Entwurf dient weniger der Durchsetzung konkreter Migrationspolitik als vielmehr der Schaffung eines Diskussionsraums und der Positionierung gegenüber den eigenen Parteikollegen.
Einerseits erhärtet Merz den Vorwurf, die CDU würde immer noch unter dem Einfluss von Merkel stehen und „grüne Politik“ betreiben. Durch die strategischen Kehrtwenden gelingt es ihm, seine Position als oppositioneller, aber zugleich versöhnlicher Reformer darzustellen. Er richtet sich damit insbesondere an frustrierte CDU-Wähler, die sich von der Partei entfremdet fühlen, aber auch an solche, die zwischen den extremeren Positionen anderer Parteien wie der AfD und der Unklarheit der FDP zögern.
Die Reaktionen im Parlament und in der Öffentlichkeit
Die Abstimmungsrunden um den Gesetzesentwurf haben gezeigt, dass Merz’ Schachzug tiefgreifende Resonanz ausgelöst hat. Während ein Teil der Abgeordneten – insbesondere aus dem eigenen Lager – gezielt ablehnende Stimmen einbrachte, um sich klar von der zuvor üblichen Parteipolitik abzugrenzen, wurde der Vorstoß zugleich als Impuls für eine erneuerte Debatte im Bundestag gewertet. Dabei gehe es, so Rieck, nicht nur um inhaltliche Fragen, sondern auch um die symbolische Bedeutung: Es wird nun sichtbar, welche Parteien und Politiker bereit sind, sich klar zu positionieren und gegebenenfalls auch Parteigrenzen zu ziehen.
Langfristige Konsequenzen für die CDU und das Parteienspektrum
Merz’ strategisches Kalkül ziele darauf ab, die CDU aus ihrer vermeintlichen Zwickmühle zu befreien. Jahrzehntelang hatte die Partei – unter dem Schatten Merkels – mit widersprüchlichen Signalen und internen Abspaltungen zu kämpfen. Durch den Vorstoß will Merz nicht nur seine eigene politische Glaubwürdigkeit als Reformator stärken, sondern auch die CDU als Ganzes wieder in eine klare ideologische Position bringen. Dabei könnte es zu einer Neuordnung innerhalb der politischen Landschaft kommen: Einige CDU-Mitglieder, die sich nicht mit der Neuausrichtung identifizieren, könnten den Weg in andere Parteien suchen, während potenziell Wähler der SPD oder auch der AfD abgeworben werden.
Der Stratege, der auf den Zufall wartet?
Doch die Überlegung, hinter Merz Vorgehen ein kongeniales strategisches Vorgehen zu sehen, hat einen Haken. Merz hat demnach auf einen GAU gewartet, ähnlich wie Merkel 2011 auf Fukushima, um damals die Abschaltung der Atomkraftwerke einzuleiten, entgegen ihren eigenen Aussagen und der Mehrheitsmeinung der Union. In gleicher Weise habe Merz, so Rieck, kühl auf das schlimmste Verbrechen gewartet, das sich eine Gesellschaft vorstellen kann: den Kindesmord durch einen Zuwanderer, der nicht mehr in Deutschland hätte sein dürfen.
Merz hätte damit auf einen Zufall gewartet, dessen Eintreten noch vor der Wahl unwahrscheinlich war. Der brutale Mord auf dem Weihnachtsmarkt in Aschaffenburg – ein christlicher „Event“ – hat ihm demnach emotional nicht ausgereicht, seine politische Volte umzusetzen. Das hätte etwas von einem politischen Pokerspiel.
Andere Politik oder bessere Ausgangsposition bei Koalitionsverhandlungen
Merz wird dennoch seine Koalitionsverhandlungen mit der SPD und den Grünen, ggf. sohar dem BSW führen (müssen). Hier hat er sich eine bessere Ausgangsposition verschafft. Die linke Umklammerung hat sich gelockert. Sich daraus zu befreien, wäre der nächste Schritt, eine wirkungsvolle Migrations-, Wirtschafts- und Energiepolitik umzusetzen. Dies könnte gelingen, wenn Merz durch seinen Schachzug skeptische oder verlorene Unionisten zurückgewinnt und mit schwachen Partnern koaliert, die hohe Stimmenverluste bei der Wahl kassieren.
Eine Minderheitsregierung mit wechselnden Mehrheiten wäre eine weitere, jedoch unwahrscheinliche Alternative. Das dritte, politisch hoch riskantes Szenario wäre, dass Merz auch eine Koalition mit der AfD in Betracht zieht – ähnlich wie es in Österreich zwischen ÖVP und FPÖ der fall ist. Dies würde allerdings zu massiven Widerständen innerhalb der Union und im gesellschaftlichen Diskurs führen. Der Einsatz eines solchen „Notfalls“ würde nur dann in Frage kommen, wenn andere Verhandlungsmodelle scheitern und der Druck, eine handlungsfähige Regierung zu bilden, immens ist.
Fazit: Merz hat zweierlei erreicht. Die linke Umklammerung hat sich gelockert. Und er hat es geschafft, die zweifelnde Anhängerschaft der CDU hoffnungsfroh zu machen und zur Wahl für die eigene Partei zurückzugewinnen. So viel ist klar: Rudert er jetzt noch mal zurück, scheitert er zusammen mit der Union.