Wenn "die Mitte" protestiert
Deutschland hätte gerade allen Grund, stolz zu sein. Auf ein kritisches Bürgertum, das sich den eigenen Gedanken und vor allem den Mund nicht verbieten lässt. Und – ganz undeutsch – dafür auf die Straße geht. Das für demokratische Rechte eintritt, voran das auf Meinungsfreiheit. Das Beamte hat, die nicht unreflektiert ihrem Minister gehorchen, sondern in der Not ihrem Gewissen folgen.
Doch Deutschland – vertreten durch die Regierung und einen wesentlichen Teil der Medienlandschaft – ist nicht stolz. Ganz im Gegenteil. Die Politik ist „besorgt“, dass ein geschätztes Viertel ihren Argumenten bei der Coronabekämpfung nicht folgen mag. Dabei ist das Staatswesen nicht in Gefahr, die Kanzlerin gewinnt laut Meinungsumfragen laufend an Zustimmung. Und sie hat – für Regierungen ungewöhnlich – die Mehrheit der etablierten, insbesondere der eher links stehenden Medien (recht unkritisch) an ihrer Seite.
Medien mit Phantomschmerzen
Diese Medien, die noch den Phantomschmerz spüren, dass sie die Deutungshoheit im öffentlichen Raum weitgehend verloren haben, sind sogar empört. So empört, dass besorgte Kämpfer gegen Hassrede, wie Spiegel-Kolumnist Markus Feldenkirchen, gerade selbst ausfallend werden. Sie erklären die neuen „Wutbürger“ zu „Hornochsen“ und zum „Fall für die Klapse“. Für Feldenkirchen haben diese Leute „chronisch einen an der Waffel“. Ein eigenartiger Versuch, eine Stimmung herunter zu kühlen. Zumal zu diesen „Leuten“ Tübingens Bürgermeister Boris Palmer, „Starkoch“ Attila Hildmann, Sachsens Kurzzeit-Ministerpräsident Thomas Kemmerich oder Finanzökonom Prof. Stefan Homburg gezählt werden.
Bürger, die einen eigenen Kopf haben und sich – ganz der Kantschen Lehre folgend – den eigenen Kopf auch gebrauchen, kommen dabei zu unliebsamen Ergebnissen. So auch Stephan Kohn. Der Oberregierungsrat – ein Mann weit oben auf der Beamten-Karriereleiter und der somit etwas zu verlieren hat – , der sich öffentlich gegen die Regierung stellt, ist zum Hans-Georg Maaßen in der Corona-Debatte geworden. Bei ihm hat es der mediale Kontrahent schwerer als zur Zeit der Flüchtlingkrise. Kohn hat ein SPD-Parteibuch und gehört keinen rechtskonservativen Parteikreisen an wie der geschasste Verfassungsschutzpräsident Maaßen, der öffentlich die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin kritisiert hatte. Es wäre souverän, Kohns 190 Seiten starkes Argumentationspapier auf der Homepage des Innenministeriums zu veröffentlichen und Argument für Argument zu widerlegen. Stattdessen wird Kohn mit Diziplinarmaßnahmen belegt.
Der Protest ist diesmal nicht "rechts"
Das ist das Unglück aus Sicht der Kollegen vom Schlage Feldenkirchen. Die Diffamierung der Meinungsabweichler fällt diesmal nicht so leicht wie bei den Gegnern der Willkommenskultur von 2015. Die landeten als „Rassisten“ und „Nazis“ schnell in der politischen Schmuddelecke. Doch die „Coronakrise bringt rechtsextreme, linke Populisten und Esoteriker zusammen“ (FAZ). SPD-General Lars Klingbeil verliert sogleich „sein Verständnis für Bürger, die an Verschwörungstheorien glauben“, wenn diese auf Demonstrationen gingen „mit Reichsbürgern, Neonazis und Holocaustleugnern, bei denen Journalisten verprügelt werden“. Aber war es nicht eine 15-köpfige Gruppe Antifaschisten, die am 1. Mai in Berlin ein ZDF-Reporterteam krankenhausreif prügelte? Zudem machen laut FAZ „Rechtsextremisten .. nach Einschätzung aus Sicherheitskreisen derzeit .. nur einen Bruchteil, vielleicht zehn Prozent, der Teilnehmer bei den Protesten aus“. Die AfD kommt als politisches Feindbild nicht infrage, da sie den Corona-Zug verpasst hat.
Kampfbegriff "Verschwörungstheoretiker"
Um die Fronten zu klären, müssen starke Begriffe her. Einer macht im Kampf gegen abweichende Meinungen gerade Karriere. „Verschwörungstheoretiker“ ist zum rhetorischen Ersatzinstrument für „Rassist“ und „Nazi“ im Kampf um die Deutungshoheit geworden. Ein Wort, das diffamiert. Das in den Medien ebenso unüberlegt pauschal wie inflationär verwendet wird. Und dazu von solchen, die selbst fabulieren, „eine ordentliche Portion Weltregierung (wäre) genau das, was ich mir jetzt wünsche“, wie neulich ZEIT-Autorin Andrea Böhm. Wer sollte dieser „Weltregierung“ wohl vorstehen, wenn sie nach demokratischen Prinzipien (one man, one vote) gewählt würde: Xi Jinping, Narendra Modi oder Donald Trump?
Ich bekomme jedenfalls ein neues Verständnis dafür, wie sich ein gehässiges Diskussionsklima aufbaut. Diejenigen, die es besonders laut beklagen, sollten sich mal an die eigene Nase fassen. Und lieber ein Deutschland feiern, das seine Rechte gegenüber „der Obrigkeit“ wahrnimmt. Das macht politisches Handeln zweifelsohne schwieriger. In Autokratien fällt das leichter. Aber die wollen wir ja nicht. Oder?
Herzlich grüßt Sie Ihr Ralf Vielhaber