Die Durchsetzungskraft der EU-Kommission erodiert zunehmend und bewegt die Brüsseler Bürokraten zu Rückzugsgefechten. Das wurde uns auf dem Deutschen Wirtschaftstag deutlich. Auf diesem forderte Digitalisierungskommissar Günther Oettinger (CDU) wortreich, die ehemaligen Telekom-Monopolisten in EU-Ländern künftig weniger stark zu regulieren.
In der Regulierungspolitik wird der politische Schwenk Brüssels gut sichtbar. So mag Oettingers Vorstoß von ehrbaren Zielen getragen sein. Ihm geht es vor allem darum, die Investitionen in Kommunikationsnetze zu erhöhen. Allerdings ist Oettinger in entgegengesetzter Fahrtrichtung zur EU-Kommission unterwegs. Deren offizielle Linie ist es nach wie vor, die Ex-Monopolisten zu regulieren, um einen freien Kommunikationsmarkt zu schaffen.
Ursache der heimlichen Kehrtwende des Kommissars: Die EU-Kommission konnte sich mit ihrer Telekom-Regulierung EU-weit nie richtig durchsetzen. Darum weicht Oettinger nun Ziele auf, die nie erreicht wurden. Öffentlich gibt die EU-Kommission zwar vor, keinen Richtungswechsel vollzogen zu haben, sondern ihrer bisherigen Linie zu folgen. Aber:
Auch in anderen Bereichen führt sie ebensolche Rückzugsgefechte. Ein Beispiel aus der Haushaltspolitik: Kommissionspräsident Jean-Claude Junckers Äußerung, man werde bei den Verstößen gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt keine Strafen gegen unsere westlichen Nachbarn aussprechen, „weil es Frankreich ist“, sorgten Anfang Juni für Unmut. Die Denke und Argumentationslinie dahinter entspricht dem oben gezeigten Muster: Die EU-Kommission kann sich nicht gegen das starke Mitgliedsland Frankreich durchsetzen – darum verzichtet sie gleich darauf, die eigenen Regeln auch einzufordern.
Dieser schwache Eindruck, den die EU-Kommission macht, stärkt ihre Gegner. Neben Großbritannien rumort es auch in anderen Ländern gewaltig. In Finnland und Dänemark finden EU-Gegner regen Zulauf. Die Umfragen zur EU-Mitgliedschaft sind in vielen Staaten verheerend. Wie das Brexit-Referendum ausgeht, werden wir morgen (Freitag) wissen. Doch auch bei einem Verbleib in der EU wird sich wahrscheinlich fast jeder zweite Brite gegen die EU ausgesprochen haben. Das dürfte auch bei einem Bremain zur Folge haben, dass die Briten weitere Ausnahmeregeln für sich fordern werden.
Bleibt die EU bei ihrer Laissez-faire-Politik gegenüber ihren Mitgliedstaaten, gefährdet sie damit sich selbst. Die Mitgliedstaaten werden zunehmend versuchen, individuelle Sonderwege auszuhandeln. Letztlich droht eine Renationalisierung.
Fazit: Die EU-Kommission verzichtet zunehmend darauf, Regeln konsequent in den Mitgliedstaaten durchzusetzen. Damit untergräbt sie ihre Autorität und zerstört langfristig das EU-Fundament. Wenn jedes Land zunehmend macht, wovon es sich die größten Vorteile verspricht, erodieren die gemeinsamen Interessen und der Anspruch, Kompromisslösungen im Sinne aller EU-Länder zu suchen.