Fast niemand möchte den Polexit
Polen bleibt in der Europäischen Union. Denn weder die EU-Kommission, noch die streitlustige Regierung in Warschau, noch die mehrheitlich pro-europäische Bevölkerung wollen ernsthaft einen "Polexit." Das Thema wurde in den vergangenen Tagen vor allem medial sehr hochgekocht. Doch bei genauerem Hinsehen erweist es sich als aufgebauscht.
Das heutige Polen ist ohne die EU nicht vorstellbar.
Auch die national-konservative Regierung in Warschau weiß um die Abhängigkeit Polens vom gemeinsamen europäischen Markt. Seit dem EU-Beitritt 2004 wuchs Polens Wirtschaft jährlich um durchschnittlich 3,17%. Die Arbeitslosigkeit ist von 18,97% im Jahr 2004 auf 3,16% zurückgegangen. Im Juni waren 300.000 Stellen in polnischen Unternehmen unbesetzt – ein Indikator für die "brummende" Wirtschaft unseres östlichen Nachbarns. Der Warenwert der polnischen Exporte ist seit 2010 um 70% gestiegen, seit 2015 wird mehr exportiert als importiert. Mit einem Exportanteil von 27% ist Deutschland Polens wichtigster Handelspartner. Danach folgen Tschechien, Großbritannien und Frankreich (je 6%) und Italien (5%). Neue EU-Zölle in Folge eines Polexits wären hier verheerend.
Der Aufschwung Polens wird neben dem gemeinsamem Markt maßgeblich von EU-Finanzierungen mitgetragen. 3,5% der polnischen Wirtschaftsleistung werden jährlich EU-finanziert. Aus dem Corona-Hilfsfonds hat Polen zudem 24 Mrd. Euro an nicht rückzahlbaren Zuwendungen gefordert. Weitere 34 Mrd. wurden als Kredite beantragt. Zusammen sind das fast 12% der polnischen Wirtschaftsleistung. Angesichts dessen ist die Anzahl der tatsächlichen Polexit-Befürworter auch in der Warschauer Politik gering.
Bevölkerung gegen Polexit
Zudem ist eine überwältigende Mehrheit der polnischen Bevölkerung (88%) gegen den EU-Austritt Polens. Laut Umfragen befürworten ihn lediglich 7%. Der aus Warschau vom Zaun getretene Rechtsstaatlichkeit-Streit mit der EU ist daher höchst unpopulär. Das zeigt auch ein Blick auf die Umfragen. Nur noch 35% der Polen sind zufrieden mit ihrer Regierung. Die Umfragewerte der regierenden national-konservativen PiS-Partei schwanken seit einem Jahr zwischen 32 und 38% – vor zwei Jahren lag die Partei noch bei Werten knapp unter 50%.Die Oppositionspartei "Bürgerplattform" des populären Donald Tusk kommt mittlerweile auf 25,8%. Im Juni waren es erst 16%. Dieser rief zu Protesten am Sonntag auf, zu denen zehntausende Menschen kamen. Die amtierende Regierung wird sich auch mit Blick auf die im Jahr 2023 anstehenden Parlamentswahlen fragen, ob sie einen langwierigen EU-Streit führen möchte. Zieht sich der Konflikt weiter in die Länge, dürften die Wahlen vor allem eine Abstimmung über den EU-Kurs Warschaus werden.
Was nun?
Fragt sich nur, wie geht es weiter in einem Streit, dessen finale Konsequenz (Polexit) niemand will? Brüssel und Warschau werden miteinander reden, Besserung geloben und am Ende mit einer halbgaren Erklärung den Streit offen lassen. Brüssel baut wohl auch darauf, dass sich die Causa Polen durch politische Verschiebungen im Zuge der Parlaments- und späteren Präsidentschaftswahlen von selbst löst. Für den Polexit spricht am Ende nur der immer mögliche Fall des politischen "Unfalls", so wie ihn die Briten erlebten.
Fazit: Mit dem "Polexit" lassen sich Aufreger-Schlagzeilen schreiben. Doch dass er tatsächlich eintritt, ist höchst unwahrscheinlich. Brüssel und Warschau werden einen Kompromiss finden, der am Ende die wirtschaftliche Einheit der EU bewahrt, sie aber politisch weiter schwächt.