Schwere Systemkrise
Europa wächst zum ersten Mal seit der Finanzkrise wieder nennenswert. Dennoch geht es der Europäischen Union schlecht. Ihre Existenz steht auf dem Spiel.
Gegensätzlich ist die Situation in Europa. Die Wirtschaft erholt sich, die Wachstumsvoraussage ist mit 2% ordentlich. Doch politisch befindet sich die Union im freien Fall. Die Flüchtlingskrise ist der Katalysator für Renationalisierungsbestrebungen. Das politische Establishment, das die EU trägt, wird fast überall zur Disposition gestellt. Ukip in England, Syriza in Griechenland, Front National in Frankreich, PIS in Polen, jetzt Podemos in Spanien – in allen größeren Ländern der EU gelangen meist national eingestellte Parteien in Machtpositionen. Die Ränder bekommen Zulauf, die gemäßigte Mitte verliert, die Kompromissbereitschaft nach innen wie nach außen sinkt. Europa als Rechtsgemeinschaft ist in Verruf geraten. Die Finanzkrise hat zur ersten großen Vertrauenserosion geführt. Die Stichworte heißen Abschaffung des Maastricht-Vertrags und des No-Bail-Out-Gebots, Anwerfen der Gelddruckmaschinen durch die EZB. Das Aussetzen von Schengen (freier Grenzverkehr) sowie Dublin (europäisches Asylabkommen) kommt hinzu. Zum Versagen der Institutionen gesellt sich die Bloßstellung des Wertegerüsts. Zur Null-Solidarität in der Flüchtlingsfrage kommt der Deal der EU mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan: Die Türkei soll die Flüchtlinge abfangen, bevor sie EU-Boden betreten. Dafür zahlt die EU nicht nur 3 Mrd. Euro, sie hat sich erpressbar gemacht. In Europas Hauptstädten schweigt man zur Situation im Südosten der Türkei, wo Bürgerkrieg mit den dort lebenden Kurden herrscht.
Fazit: Der Union steht möglicherweise der Praxistest mit Nationalismus und Sozialpopulismus bevor – das wäre der (teure) Weg Südamerikas.