Gute Wahl-Chancen für Reformer
Mit Reformen gewinnt man keine Wahl, so eine weitverbreitete Annahme. Der Realität hält diese erfreulicherweise oft nicht stand.
Die Wiederwahl-Chancen von Regierungen, die größere Strukturreformen durchführen, sind besser als häufig vermutet. Zu diesem Schluss kommt Marco Buti, Generaldirektor für Wirtschaft und Finanzen bei der EU-Kommission in einer Studie, die er mit zwei weiteren Wissenschaftlern veröffentlicht hat. Grundlage der Untersuchung sind rund 150 Wahlergebnisse aus 20 OECD-Ländern im Zeitraum von 1987 bis 2012. Die Wiederwahl-Chancen steigen laut Studie einerseits, je üppiger der Sozialstaat ausgestattet ist. Die Ausprägung des Sozialstaats wird am Verhältnis der Staatsausgaben zum Bruttoinlandsprodukt gemessen. Reform-Regierungen wurden besonders oft in Staaten mit einem ausgedehnten Sozialstaat wiedergewählt. Die Erfolgsquote der zur Wahl stehenden Politiker liegt bei knapp 60%. In Ländern mit einem niedrigen Anteil der Staatsausgaben am BIP liegt sie unter 50% - eine logische Entwicklung, schließlich senken soziale Auffangnetze das Leid und somit die Missgunst der Betroffenen gegenüber der verantwortlichen Regierung. Der zweite Faktor, der die Wiederwahl-Chancen signifikant erhöht, ist ein funktionierender Finanzsektor. Demnach konnten über 70% der Regierungen in einem Land mit einem soliden Finanzmarkt nach Strukturreformen eine weitere Amtszeit erreichen. Buti und seine Co-Autoren erklären dies mit der Fähigkeit der Finanzmärkte, die Folgen von Reformen für Privathaushalte und Unternehmen abmildern zu können. So ermöglichten funktionierende Finanzmärkte z. B. Vermögensgewinne durch positivere Erwartungen zur wirtschaftlichen Zukunft oder Kredite in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Ob ein Finanzmarkt funktioniert, wird in der Studie durch den Financial Freedom Index des US-amerikanischen Fraser Institutes gemessen. Zudem zeigt die Untersuchung eine interessante zeitliche Entwicklung. Bis zur Finanzkrise 2008/09 wurden reformwillige Regierungen in 55% aller Fälle wiedergewählt. In den Jahren nach der Krise sank diese Zahl auf knapp 50%. Dieser statistisch nur bedingt signifikante Rückgang dürfte größtenteils durch die wirtschaftlich akut schwierigeren Rahmenbedingungen verursacht worden sein. Messwert für die Reformbereitschaft einer Regierung sind die von der OECD entwickelten Strukturreform-Indikatoren. Sie zeigen an, in welchem Umfang Regierungen von der OECD formulierte Reformempfehlungen umgesetzt haben.
Fazit: Mit schmerzhaften Strukturreformen gewinnt man keine Wahl, lautet eine weitverbreitete Annahme in Politik und Medien. Das Wahlvolk sieht das erfreulicherweise oft genug anders.