Die Ukraine steht vor einer möglicherweise länger dauernden Phase politischer Anarchie. Im schlimmsten Fall droht ein Bürgerkrieg. Auf der einen Seite vertieft sich die Spaltung in der ukrainischen Gesellschaft. Auf der anderen Seite sind keine politischen Kräfte in Sicht, denen es gelingen könnte, das Land zusammenzuführen. Selbst wenn der zunehmend politisch isolierte Präsident Wiktor Janukowitsch sein Amt räumt, ist es unwahrscheinlich, dass sich die Lage normalisiert. Die ukrainische Opposition ist schwach. Auch wenn in den deutschen Medien ein anderer Eindruck erweckt wird, hält die breite Bevölkerung nicht viel von Arsenij Jazenjuk, Oleh Tjahnybok oder Vitali Klitschko. Jeder von ihnen will Präsident werden. Fänden die Wahlen am kommenden Sonntag statt, wäre jedoch keiner der drei ein klarer Sieger. Die Bevölkerung ist in drei Gruppen gespalten, die sich machtpolitisch neutralisieren: Die Pro-Europäer mit den Vertretern des EuroMaidans fordern die Unterschrift Janukowitschs unter das Assoziierungsabkommen mit der EU. Rechte und rechtsradikale Gruppen nutzen den Maidan-Platz ebenfalls als Bühne. Sie wollen Janukowitsch absetzen, sind jedoch strikt gegen ein Assoziierungsabkommen mit der EU. Sie besetzen Verwaltungs- und Regierungsgebäude in Kiew und den Regionen, übernehmen dort die Selbstverwaltung und weigern sich, den Gesetzen aus Kiew zu folgen. Die russischsprachige Bevölkerungsgruppe hat kaum noch Vertrauen in Janukowitsch. Er gilt als zu schwach. In den Industriezentren im Osten und Süden des Landes wächst die separatistische Stimmung. Aus dem Ausland sind keine Lösungen zu erwarten. Brüssel ist untätig und scheint nicht recht zu wissen, was es von den Entwicklungen halten soll. Vor der Europawahl im Mai sind kaum bedeutende Initiativen der alten Kommission oder des Parlaments zu erwarten. Russlands Präsident Putin will zunächst für die Zeit bis nach der Winter-Olympiade in Sotschi (4.2. - 23.2.) jegliche Konfrontation mit Europa vermeiden und mischt sich nicht ein. Er weiß aber, dass jeder Machthaber in Kiew vom finanziellen Wohlwollen Moskaus abhängig ist. Die von der Rezession geplagte Ukraine (reales BIP 2013: -0,6%) hat ca. 30 Mrd. Auslandsschulden. Die Hälfte davon entfällt auf Russland. Am ehesten könnte das Parlament die Situation in den Griff bekommen. Heute und morgen wird es über die Lage beraten und mögliche Gesetze oder Verfassungsänderungen diskutieren.
Fazit: Die politische Lage in der Ukraine könnte viele Monate instabil bleiben. Mit der Zeit wächst die Gefahr eines wirtschaftlichen Kollapses. Nach den Olympischen Spielen könnte es zu einer Eskalation unter Einmischung Moskaus kommen. Als relativ sicher gelten die Industriegebiete im Osten.