Europa wird mit dem Rückzug der Briten auf ihre Insel nicht auseinanderfallen. Aber die Spannungen im Staatenverbund werden nicht geringer. Vor allem Deutschland gewinnt noch einmal deutlich an Gewicht. Es muss sich über seine neue Rolle noch klar werden.
Deutschland wird mit dem Austritt der Briten endgültig zur politischen und wirtschaftlichen Vormacht in der EU. Die Balance of Power, das Gleichgewicht der Kräfte der bedeutenden europäischen Staaten, ist mit dem Brexit dahin. Berlin wird zur Hauptstadt Europas. Wer Europas Nummer wählt, wählt die vom Kanzleramt. Dort steht das Telefon für die Staats- und Regierungschefs aus den USA, Russland und China. Frankreichs Einfluss schwindet weiter.
Wirtschaftlich profitiert Deutschland ebenfalls. Großbritannien wird etwa für China weitgehend uninteressant. London hat hier gerade eine Akquisekampagne gestartet. Frankfurt wird nach der EZB auch noch zahlreiche Auslandsbanken gewinnen, die dort ihren Sitz für Europa nehmen. Die Börsenfusion von Frankfurter Börse und London Stock Exchange macht mit Hauptsitz London ebenfalls keinen Sinn mehr.
Berlin muss seine neue Rolle annehmen. Es wird diplomatisch nicht unbedingt vorsichtiger, aber noch geschickter als bisher agieren müssen. Es liegt so gesehen im deutschen Interesse, Europa weiter zu vertiefen – und über Brüssel Europa zu regieren. Innenpolitisch wird das ein harter Brocken. Denn weder in Deutschland und noch in den meisten anderen EU-Staaten ist derzeit eine weitere Vertiefung und Vergemeinschaftung angesagt. Sollten die Staats- und Regierungschefs die Flucht nach vorn antreten, droht die endgültige Entfremdung der Bevölkerung von den politischen Eliten.
Die EU-Kommission, der ganze Brüsseler Apparat, ist und bleibt eine mächtige Institution in Europa. Deutschland und Frankreich, seit de Gaulle in Europa eng verbunden, werden den Laden zusammenhalten. Matteo Renzi in Rom braucht Geld aus Brüssel und Kapital aus aller Welt, den Rückhalt des Gemeinsamen Marktes und die Freizügigkeit in demselben. Sonst kann er einpacken. Italien ist außerdem EWG-Urgestein. Selbst das nationalistische Ungarn braucht dieselben Subsistenzmittel und das Wohlwollen aus Berlin und Paris. Der gesetzliche Rahmen, die Richtlinien und Normen bleiben allesamt bestehen, desgleichen sämtliche Institutionen bis zum EuGH. Die Kommission wird als eigenständiger Spieler aber nur wenig Handlungsspielraum haben.
Fazit: Deutschland steckt in der europäischen Zwickmühle. Es kann sich nicht mehr klein machen. Aber jeder Anschein von Dominanz wird zu (schweren) politischen Verwerfungen mit den Nachbarn führen. Nur ein europäischer Bundesstaat würde das Dilemma lösen. Aber den will vorerst niemand.