"Die Finanzindustrie hat in Deutschland zu viel Einfluss auf die Richterschaft"
RA Hans Witt: Die Entwicklung würden wir in jedem Falle als rückläufig bezeichnen. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen gibt es eine zwischenzeitlich sehr verbraucherfeindliche Rechtsprechung in Deutschland – dazu weiter unten ein aktuelles Beispiel – und die Rechtsschutzversicherungen decken diese Themen praktisch überhaupt nicht mehr ab.
Widerspruch von Lebensversicherungen ein Schwerpunkt
Welche Themen verursachen die meisten Streitigkeiten?
Wir sind derzeit in hohem Maße involviert bei der Frage des Widerspruchs bzw. Rücktritts von Kapitallebensversicherungen und Rentenversicherungen. Hier haben wir Anfang August 2022 eine rechtlich in hohem Maße bedeutsame Entscheidung vor dem Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz erstritten (Az. VGH B 70/21). Gerade diese Entscheidung zeigt, in welchem Maße die deutschen Gerichte willkürlich und auf breiter Front gegen die Verbraucher entscheiden. Man kann davon ausgehen, dass in hunderten von Fällen zahlreiche Land- und Oberlandesgerichte, aber auch der Bundesgerichtshof Urteile unter Verstoß gegen Art. 101 GG verkündet haben, sodass diese Urteile alle rechtswidrig sind. In all diesen Fällen wurde zulasten der Verbraucher geurteilt und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes einfach ignoriert. Das sind ehrlich gesagt Verhältnisse, die nicht besser als die in Polen sind. Die Gerichte werden überlegen müssen, ob sie weiterhin die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ignorieren wollen. Vergleicht man die Urteile in anderen Ländern, muss man feststellen, dass der Verbraucherschutz in Deutschland inzwischen bald Schlusslicht in der Europäischen Union sein dürfte. Es ist offensichtlich, dass die Lobbyisten der Finanzindustrie zu viel Einfluss auch und gerade bei der Richterschaft gewonnen haben.
Rechtsschutzversicherungen greifen praktisch nicht mehr
Hat sich die Streitkultur verändert? Sind Kunden heute eher bereit, es auf einen Rechtsstreit ankommen zu lassen?
Aus den oben genannten Gründen lassen es Kunden heute eher nicht auf einen Rechtsstreit ankommen. Maßgeblich dürfte vor allem sein, dass die Rechtsschutzversicherungen praktisch nicht mehr greifen. Wenn es dann noch eine unkalkulierbare Rechtsprechung gibt und wir ehrlich darüber aufklären, wer wird dann noch das Risiko eines Prozesses eingehen wollen? Die Gegenseite hat da keine Probleme. Bei denen ist ein verlorener Prozess wohl meist nur ein Kollateralschaden. Es wird höchste Zeit, in Deutschland einiges zu ändern. So müsste z.B. das Beweisrecht grundlegend verändert werden wie in den USA. Dort können Gerichte Banken auch einmal zur Herausgabe von Unterlagen zwingen. Denn nur so können gerechte Urteile gesprochen werden. Ferner wird es höchste Zeit, dass Banken und Versicherungsgesellschaften ebenfalls wie in den USA üblich, zu zusätzlichen Strafzahlungen in großer Höhe verurteilt werden. Denn schauen Sie sich einmal die Deutsche Bank an. Die macht doch gerade, was sie will, und stört sich aus meiner Sicht nicht daran, wenn die Staatsanwaltschaft zur Durchsuchung erscheint. Würde man hier einmal hart durchgreifen, bin ich sicher, dass sich einiges ändern würde. So ändert sich eben nichts. Das Schlimme daran ist, es wird akzeptiert und es wird gefühlt öffentlich scheinbar gar nicht mehr als besonders moralisch verwerflich angesehen. Wenn schon die Politik die Banken in einem nie da gewesenen Maße in rechtswidriger Art und Weise schützt wie beim Cum-Ex-Skandal, muss man sich nicht wundern, wohin die Reise geht.
Keine guten Erfahrungen mit Ombudsleuten
Welche Rolle spielen die Ombudsleute bei der Streitbeilegung?
Meine persönlich letzten Erfahrungen mit den Ombudsleuten sind negativ. So hatte ich einen Fall, bei dem einem 93-jährigen Mann, der für seinen Enkel eine Ausbildungsversicherung haben wollte bzw. ein Kindersparplan, von einer Bank eine 60 Jahre laufende Rentenversicherung verkauft wurde. Der Ombudsmann meinte, ich hätte dazu den Sachverhalt nicht substantiiert vorgetragen und hat sich darüber seitenweise ausgelassen, kam dann aber immerhin zu dem Ergebnis, dass wohl doch eine Pflichtverletzung vorliegen würde und hat einen Vergleich angeboten, den wir abgelehnt haben. Der Vergleich im Anschluss daran mit der Bank war besser.
Banken werden nervöser
Sehen Sie eine positive Entwicklung bei den Banken, was Kundenzentrierung betrifft?
Nein. Tendenziell habe ich den Eindruck, dass die Banken selbst immer mehr Probleme bekommen und dadurch auch nervöser auftreten, was regelmäßig nicht dazu führt, dass es eine Verbesserung für die Kunden gibt. Das Geldverdienen rückt immer weiter in den Fokus. Davon sind allerdings nicht nur Banken betroffen, sondern alle gesellschaftlichen Bereiche.
Herr Witt, vielen Dank für das interessante Gespräch.
Mit RA Hans Witt sprach Elke Pohl für die FUCHS|RICHTER Prüfinstanz.