Ukraine bekommt klare NATO-Perspektive
Die NATO stößt der Ukraine noch vor dem Gipfel (11./12.7). die Tür zum Verteidigungsbündnis auf. Am 12.7. soll der NATO-Ukraine-Rat gegründet und auch sofort die erste Sitzung in Vilnius abgehalten werden. An der werden die Staatschefs der NATO-Staaten und der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj teilnehmen.
Das ist eine Überraschung – und eine Botschaft. Bisher war Konsens, dass es auf dem NATO-Gipfel lediglich um Sicherheitsgarantien für das Land gehen werde. Das war für Kiew auch der Grund, den Druck auf die NATO zu erhöhen. Selenskyj hatte mehrfach – und zuletzt immer offensiver – eine klare NATO-Perspektive für die Ukraine in Vilnius gefordert.
NATO verschafft der Ukraine eine Perspektive
Die Botschaft der NATO an Kiew lautet: Es gibt eine klare Perspektive, eine Mitgliedschaft ist aber vorerst nicht realistisch. Die NATO vertritt offiziell weiterhin die Position, dass die Ukraine erst „nach dem Krieg“ eine Chance hat, in das Bündnis aufgenommen zu werden. Kiew sah bisher in einem NATO-Beitritt die „Voraussetzung für Frieden“. Das ist eine Position, auf die sich die NATO nach ihrem Statut nicht einlassen kann.
Hintergrund der NATO-Entscheidung dürfte die sich schnell zuspitzende atomare Dynamik rund um das AKW Saporoschje sein (FB vom 29.06.). Seit Wochen werfen sich beide Konfliktparteien gegenseitig vor, einen Anschlag auf das AKW zu planen. Die Ukraine behauptet, russische Truppen hatten das Kühlbecken vermint. Außerdem behauptete Selenskyj heute (6.7.), dass auf den Dächern des AKW „bombenähnliche Gegenstände“ entdeckt worden seien.
US-Geheimdienst und IAEO haben keine Hinweise auf geplanten AKW-Angriff durch Russland
Für alle diese Behauptungen gibt es keine Beweise. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) hat offiziell bestätigt (sogar im französischen TV), dass sie keine Minen in der Anlage gefunden habe. Nach den neuesten Vorwürfen aus Kiew hat die IAEO einen zusätzlichen Zugang zu den Dächern der Anlage gefordert.
Selbst das US-Verteidigungsministerium bestätigt weiterhin, dass es „keine Anzeichen einer bevorstehenden Provokation seitens Russlands“ gibt. Ein Ex-CIA-Berater äußerte aber seine Besorgnis, dass die Ukraine „wegen der stockenden Gegenoffensive und dem Druck, bis zum NATO-Gipfel Ergebnisse zu liefern, verzweifelt“ sei. Das könne dazu führen, dass die Armee einen „Angriff auf das AKW unter falscher Flagge“ versuchen könnte, so der Geheimdienstmann.
Unklare Bedrohungslage wird ernst genommen
Russland wiederum hat in einem Eilantrag vor dem UN-Sicherheitsrat schon vor Tagen offiziell erklärt, des „nicht die Absicht habe, das AKW in irgendeiner Weise zu schädigen.“ Derweil hat die Ukraine die Hauptstromleitung zum AKW vom Netz genommen. Das Kraftwerk muss jetzt über eine Notleitung versorgt werden.
Die unklare Bedrohungslage um das AKW wird aber offenbar von allen Seiten sehr ernst genommen. Dem Vernehmen nach hätten in den vergangenen Tagen intensive Gespräche zwischen den osteuropäischen Staatschefs und Selenskyj stattgefunden. Das berichten russische Medien. Auch Kanzler Olaf Scholz (SPD) hatte jüngst mit ihm telefoniert. Unterdessen ist am 3.7. ein US-Flugzeug in Spanien eingetroffen, so flightradar. Das ist auf die Messung radioaktiver Strahlung spezialisiert. Die größte Gefahr in dem Kraftwerk geht vom dort gelagerten Atommüll aus. Der könnte mit einem Drohnenangriff als eine „schmutzige Bombe“ missbraucht werden.
Fazit: Die Bedrohungslage um das AKW ist heikel und unübersichtlich. Ein Angriff würden den Krieg grundlegend ändern. Es gäbe hohen politischen Entscheidungsdruck auf allen Ebenen, kaum Zeit zur Ermittlung der Täter. Darum hätte eine Attacke das Potenzial, die Agenda des NATO-Gipfels zu verändern und die NATO unter Druck zu setzen. Dem greift die NATO durch die Gründung des NATO-Ukraine-Rates überraschend vor. Selenskyj wird das nach dem NATO-Gipfel als Erfolg in Kiew verkaufen können.
Hinweis: Klar ist auch, dass Putin künftig auch in der Ukraine eine harte NATO-Grenze haben wird (FB vom 24.2.2022). Die Frage ist nur noch, wo diese Grenze verläuft und wie lange es noch dauert, bis über den Verlauf dieser Grenze gesprochen wird.