Manfred Webers Alleingang bei Nordstream 2
Der deutsche Spitzenkandidat der EVP, Manfred Weber (CSU), sorgt in Berlin für heftige Irritationen. Sowohl in den eigenen Unions-Reihen als auch speziell in der Bundesregierung und den Spitzenverbänden der Wirtschaft. Der Kandidat der gemäßigten konservativen Parteien bei der Europawahl am 26. Mai will sich mit einer Breitseite gegen Nordstream 2 für die Nachfolge von Jean-Claude Juncker als Kommissionpräsident beliebt machen. Nicht in Deutschland, aber in Frankreich, Griechenland und vor allem den osteuropäischen Staaten und auch dem Baltikum. Den Ländern also, die als Gegner des seit langem umstrittenen, aber auch in Brüssel politisch eigentlich entschiedenen Projekts gelten.
Weber will als möglicher nächster Chef der Brüsseler Behörde „mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln" den (schon fortgeschrittenen) Bau der Pipeline stoppen. So viel Opportunismus und Zuspitzung hat dem als ausgleichenden Charakter geltenden Weber kaum jemand zugetraut. Zu Jahresbeginn hatte Kanzlerin Angela Merkel mit Mühe Frankreich wieder auf ihre Seite gezogen. Paris hatte sich im Februar gegen das (fast fertige) Projekt gestellt. Folglich ist Merkel überhaupt nicht amüsiert über Webers Vorstoß, der – so ist zu hören – nicht mit der Regierungschefin abgestimmt war. Zur Erinnerung: Merkel hatte mit dem Verzicht auf das Spitzenamt bei der EZB der Kandidatur Webers für den Spitzenposten bei der Kommission den Vorzug gegeben.
Gespaltener Bundestag
Die SPD im Bundestag steht weiter hinter dem Projekt. Ex-Kanzler Gerhard Schröder, der „Genosse der Bosse" hatte es einst mit angeleiert. Für sie ist das Ganze zudem politisch ein gefundenes Fressen. Denn die Unionsfraktion ist zweigeteilt. Sie will „ihren" Kandidaten in Europa nicht beschädigen und stellt sich öffentlich hinter seinen Kurs „Europa first". Andererseits weiß man insbesondere im straken Wirtschaftsflügel um die Brisanz von Webers Vorstoß.
Alarmierte Wirtschaft
Die deutsche Wirtschaft ist jedenfalls alarmiert. Denn Nordstream 2 ist mehr als ein Politikum. Deutschlands Energiesicherheit ist durch die Energiewende und deren schon fahrlässige Behandlung im zuständigen Wirtschaftsministerium gefärhdet. Einerseits koppelt sich Deutschland von immer mehr fossilen Energieträgern und der zumindest CO2-neutralen Kernenergie ab. Andererseits können noch so viele Windkraftgeneratoren und Sonnenkollektoren nicht für Energiesicherheit sorgen. Dazu braucht Deutschland ein zweites (Sicherheits-)Netz. Und das muss mangels Alternativen mit Gas versorgt werden.
Gas ist energiepolitisch weiter alternativlos
Das teure amerikanische Flüssiggas ist keine Alternative. Es würde die Energiekosten nur zusätzlich verteuern. Auch umweltpolitisch ist der Rückgriff auf Flüssiggas ein Treppenwitz. Die USA nutzen das umstrittene Fracking-Verfahren, um den LNG-Ausgangsstoff, Erdöl, zu gewinnen. Ein Stopp nach 25 Jahren Planungs- und Bauzeit würde auch nicht das Vertrauen in Europas Verlässlichkeit stärken.
Andererseits gewinnt die politische Dimension der Pipeline nach dem Wahlausgang in der Ukraine an Kraft. Denn Kiew ist der große politische Verlierer des bisherigen europäischen Kompromisses. Dieser sieht zwar vor, dass der Gastransit durch die Ukraine in nennenswertem Umfang bestehen bleibt. Aber tatsächlich hat Kiew nicht mehr die Hand am Drücker, was die russischen Gaslieferungen angeht. Und mit der Wahl des unerfahrenen Komikers Wolodymyr Selenskyj ist die Ukraine mehr denn je den geostrategischen Machtambitionen von Russlands Präsident Wladimir Putin ausgeliefert. Das macht die Sache fürs Kanzleramt so verzwickt.
Energiepolitische Naivität im Bundeskabinett
Aus den Reihen der Regierungsspitze kommen öffentlich bisher keine oder nur laue Entgegnungen. Dass Nordstream immer wieder „als ein Projekt der deutschen Wirtschaft" bezeichnet wird, kann da niemanden beruhigen. Denn das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Kanzleramt bzw. Wirtschaftsministerium ist angespannt.
Fazit
Die Naivität, mit der Deutschlands Energiesicherheit in Politik, aber auch Teilen der Presse behandelt wird, erschreckt. Dass ausgerechnet die Unionsfraktion bereit ist, ein strategisch zentrales Projekt hinter Webers kurzfristige politische Ambitionen zu stellen, schafft ebenfalls kein Vertrauen in die „Politik der Mitte".