Nawalny als Vorwand
Mit der Drohung, Nord Stream 2, die Ostsee-Pipeline von Wyborg nach Greifswald, zu stoppen, schlägt Europa ein neues Kapitel außenpolitischer Hilf- und Orientierungslosigkeit auf. Ja, die naheliegende, aber nach wie vor unbewiesene Annahme, dass der Regimekritiker und im Land beliebte und erfolgreiche Oppositionelle Alexej Nawalny zumindest mit Billigung, wenn nicht durch Anstiftung der russischen Staatsführungen vergiftet wurde, ist unerhört. Nachgewiesen ist Gift bisher nicht. Nur Symptome. Ruft das also wirklich nach Sanktionierung, nach genau dieser Bestrafung? Nein.
Für die Staatsführung unter Wladimir Putin ist der im Berliner Kanzleramt erhobene Vorwurf unschön. Aber man darf nicht vergessen: Es ist nicht das erste Mal, dass Moskau von Europa eines Giftmords beschuldigt wird. Der Ruf ist sozusagen schon ruiniert. Möglicherweise hat Berlin den Russen mit der medienwirksam inszenierten Behandlung Nawalnys in der Berliner Charité sogar einen Gefallen erwiesen. Moskau kann sich so bequem des derzeit wichtigsten Oppositionellen des Landes entledigen. Denn dass Nawalny noch mal in die Heimat zurückkehren darf, ist unwahrscheinlich. Andererseits: Hat ein professioneller Geheimdienst nicht andere Möglichkeiten, sich eines Regimekritikers mit weniger Aufsehen und Fragezeichen zu entledigen, etwa einem Autounfall?
Hat Berlin einen Vorwand gesucht?
Auch der wegen vermeintlicher Steuerhinterziehung zunächst verurteilte Oligarch Michail Chodorkowski, der Putin als Politiker gefährlich geworden war, kam zunächst ins Gefängnis, wurde begnadigt und ging daraufhin ins schweizerische Exil. Er lebt heute in London und legt sich mit der Moskauer Staatsführung nicht mehr an.
Die deutsche Führung macht den Eindruck, dass man nur nach einem Vorwand gesucht hat, um ohne allzu großen Gesichtsverlust im Kanzleramt „aus der Nord-Stream Nummer rauszukommen“. Seit vielen Monaten ist der Druck aus den USA, das Projekt zu stoppen, enorm.
Europa ohne Widerstandskraft gegen die USA
Die Interessen der USA sind mindestens zur Hälfte wirtschaftlicher Natur. Man will gerne eigenes Fracking-Gas nach Europa liefern. Die Mittel, die Washington gegenüber seinem Verbündeten wählt, sind unerträglich. Das Weiße Haus bestraft Firmen, die sich am Pipelinebau beteiligen und stellt bereits so das Projekt infrage.
Europa hat nicht den Willen gezeigt und die Kraft aufgebracht, sich gemeinsam dem amerikanischen Druck zu widersetzen. So wurde beispielsweise die dänische Regierung vom Weißen Haus direkt erpresst. Europa hat Berlin ziemlich allein gelassen. Denn in Europa ist Nord Stream 2 mehrheitlich, einschließlich beim wichtigsten Partner Frankreich, ungeliebt.
Opportunistische Dreingabe eines strategischen Projekts?
Für Deutschland aber ist die Pipeline – und war sie bisher auch ausdrücklich für die Bundeskanzlerin – ein strategisches und somit nicht zur Disposition stehendes Projekt, in das bereits Milliarden geflossen sind. Merkel muss jetzt Stehvermögen zeigen. Doch es entspricht dem Muster ihrer Politik, strategische Projekte opportunistisch preis zu geben: So war es in der Atompolitik, bei der Wehrpflicht, in der Flüchtlingspolitik und zuletzt bei Eurobonds.
Nord Stream 2 ist somit kein europäischer „Warnschuss“ gegen Moskau. Es verfestigt sich vielmehr der Eindruck einer selbst bei strategischen Themen nachgiebigen deutschen Führung und eines planlosen Europa, das keinerlei Vorstellung gibt, wie es auf Dauer und bei abnehmendem Schutz der USA mit seinem größten Nachbarn Russland zusammen existieren will. Dass sich Moskau wirtschaftlich in die Knie zwingen lässt, wird niemand glauben; zumal auch dazu Europa keine Einigkeit erzielen wird. Dass man es militärisch besiegt, steht ohnehin nicht zur Debatte.
Europa muss mit Russland im Gespräch bleiben, ob es will oder nicht. Mit dem Stopp von Nord Stream 2, zieht man die Tür wieder ein Stückchen zu. Es wäre ein in jeder Hinsicht dummer Entschluss, meint Ihr Ralf Vielhaber