Demokratien am Scheideweg
Die liberale Welt hat ihren Höhepunkt überschritten. Zwar ist es unzweifelhaft, dass die Welt insgesamt seit den 1970er Jahren demokratischer, freier und liberaler geworden ist. Seit etwa zwanzig Jahren aber stagnieren die "Demokratie-Werte", seit zehn Jahren gehen sie zurück.
Ihr Niedergang wird sich im kommenden Jahr fortsetzen. Der Wohlstand des Westens hat zwar noch Strahlkraft. Doch die der Regierungsform Demokratie verblasst immer mehr. Das liegt einerseits am ökonomischen Erfolg autoritärer Staaten wie China und Indien. Andererseits liegt es am relativen Erfolgsmangel der westlichen Demokratien selbst.
Weltweit auf dem Rückzug
Konkret zeigt sich die Demokratie-Krise an vielen Punkten. Mit Polen und Ungarn haben sich autoritär agierende Regime mitten in der EU eingenistet. In Frankreich, wo 2022 Wahlen anstehen, kommen die Rechtsextremen von Marine le Pen in Umfragen auf ca. 20% bis zeitweise beinahe 30%. In Italien vereinen die extrem rechte Lega Nord und die rechtsextremen Fratelli d’Italia 40% der Wählerstimmen auf sich. Die USA haben 2020 einen verantwortungslosen Donald Trump durch einen tattrigen Joe Biden ersetzt. Beiden ist es nicht gelungen, die viel zitierte Spaltung der US-Bevölkerung zu überwinden – im Gegenteil. In Chile ist bei den Präsidentschaftswahlen erstmals seit Pinochet kein Kandidat der Mitte in die Stichwahl eingezogen. Und (nicht nur) in Deutschland greift der Staat zunehmend ins Wirtschaftsgeschehen ein, maßregelt seine Bürger in der Pandemie, in der Sprache und dem Klimaschutz und führt nahezu geräuschlos immer neue Überwachungsgesetze (Telekommunikation, öffentlicher Raum) ein.
Dass es sich dabei nicht um subjektive Beobachtungen handelt, bestätigt auch die Wissenschaft. Besorgniserregend ist die jüngste Ausgabe des Demokratie-Reports des International Institute for Democracy (IDEA). Das renommierte schwedische Forschungsinstitut sieht „eine zunehmend autoritäre Welt. Das manifestiert sich nicht nur in mehr Repression in bereits bestehenden autoritären Umgebungen. Inzwischen greifen demokratische Regime selbst auf traditionell autoritäre Taktiken zurück."
Demokratie hat Höhepunkt überschritten
Ein Blick auf die verschiedenen Demokratie-Indizes (siehe Abbildung) zeigt, dass die Demokratie ihren „Höhepunkt“ überschritten hat.
Europa ist nicht nur historisch, sondern auch global gesehen das Zentrum der Demokratie. Doch mit Polen und Ungarn gibt es zwei Länder, die die IDEA als „rückfällige Demokratien“ einstuft. Gleiches gilt für Indien und Brasilien. Auch die USA haben in diesem Jahr erstmals diesen Status erhalten.
Der Souverän sonnt sich im Glanz des Niedergangs
Das Problem in den westlichen Demokratien ist weniger die Politik, sondern der Bürger. Der Souverän der Demokratie sonnt sich in spätrömischer Dekadenz. Er hat sich selbst entmündigt, gibt aus Überforderung (oder Bequemlichkeit?) das kritische Denken auf und bereitwillig Eigenverantwortung an den Staat ab. Sobald ein Gesetz der Sicherheit, dem Klimaschutz oder der Solidarität dient, kann es die Politik mit kräftigem Rückenwind beschließen, ganz gleich welche Freiheitseinschränkungen damit verbunden sind.
Rückenwind für weitere autoritäre Tendenzen entsteht auch aus zunehmenden ökonomischen Unwägbarkeiten. Die daraus entstehende Verunsicherung wird den Ruf nach einen starken Staat weiter befeuern. Die Inflation gibt bereits ein erstes Gastspiel. Sie wird wieder sinken, aber nicht auf das Niveau der letzten zwanzig Jahre. Die hiesige Exportwirtschaft wird merken, dass ihre Produkte auf dem Weltmarkt angesichts des Aufstieg Asiens nicht mehr ganz so stark gefragt sind. Die zunehmend staatszentrierte Wirtschaft schmälert das Wachstum. Auch die Demografie spricht nicht dafür, dass sich in Europa langfristig großes Wachstum entfachen lässt - in China sieht es zugegebenermaßen ebenfalls mau aus. Sobald die Zinsen steigen, wird es wirtschaftlich ungemütlicher – Betriebe werden schließen, der Fachkräftemangel wird dazu führen, dass Stellen (in der Pflege) unbesetzt bleiben.
Rückbesinnung als Chance für den Westen
Was bräuchte es für eine gesellschaftliche Trendumkehr? Erfolge! Nur wenn ein wirtschaftliches oder politisches System Erfolge produziert, genießt es Ansehen und damit auch Autorität. Doch wie der Westen angesichts der oben skizzierten Probleme diese Erfolge erschaffen soll, wird der Gordische Knoten der kommenden zwanzig Jahre. Mehr Eigenverantwortung und weniger Regulierung und Bürokratie kann und sollte die Politik "in die Waagschale werfen" - auch wenn der Trend gerade gegenläufig ist. Die Bequemlichkeit der westlichen Gesellschaften kann aber auch damit nicht überwunden werden.
Herausstellen wollen wir aber auch die positiven Vorzeichen der neuen Zeit. In den letzten Jahren gab es große Protestbewegungen unterschiedlichster Coleur. Und schließlich tritt mit dem Ende der Ära Merkel die Politik in eine Berliner Republik 2.0 ein. Das stabile Parteiensystem mit klaren Mehrheiten löst sich auf. Das wird die Bedeutung des Bundestages als Kernelement des demokratischen verfassten Staates wieder mehr in den Mittelpunkt rücken, weg von der Kanzler- in eine Parlaments-Demokratie. Grüne und SPD treiben intern die Trennung von Parteiamt und Regierungsamt voran – ein „Abnickverein“ wie die CDU werden sie nicht sein. Gute Ansätze sind also vorhanden – um der Demokratie wieder Strahlkraft zu verleihen, muss aber noch eine Menge geschehen.
Fazit: Die Krise der Demokratie ist auch eine Krise der Freiheit. Der Staat darf sie einschränken, solange die Menschen ihren Wohlstand auskosten können. Dieser innere Widerspruch tritt allmählich immer deutlicher zutage und gefährdet den sozialen Frieden.
Hinweis: Lesen Sie in der ausführlichen Online-Fassung des Artikels wo sich in Politik und Wirtschaft Anzeichen für den Rückmarsch des demokratischen Systems zeigen.