EU auf dem Weg in den Schuldensozialismus
Bei der Aushandlung der neuen Schuldenregeln wollen vor allem die drei Südländer Frankreich, Italien und Spanien maßgeschneiderte Lösungen. Man kann auch sagen: Sie wollen gar keine Regeln mehr. Denn darauf wird es in der Praxis hinauslaufen. Das lehrt die Erfahrung aus zwei Jahrzehnten.
Feste Richtwerte zum Abbau der Schulden, wie sie der deutsche Finanzminister Christian Lindner (FDP) – glücklicherweise zusammen mit weiteren zehn Staaten in der EU – entschlossen fordert, lehnt insbesondere Frankreichs Finanzminister Bruno le Maire vehement ab. Das Ganze als „politisches Theater“ zu bezeichnen, wie es Michael Hager, Kabinettschef von Vladis Dombrovskis, tut, zeigt nur, welcher unselige Geist in Brüssel herrscht.
Regeln werden der Realität angepasst
Käme es dazu, würden im Nachhinein die Voraussetzungen vieler Staaten zum Eurobeitritt fallen. Man kann sagen, die Regeln werden der Realität angepasst. Ich formuliere es anders: Es geht um einen Freibrief, alle (noch) soliden Volkswirtschaften im Euroraum auszubeuten.
Deutschland und etliche andere Länder haben zumindest versucht, ihre Brutto-Verschuldung unter 60% zu halten. Deutschland hat eine Schuldenbremse eingeführt und sich auch regelmäßig an die Neuverschuldungsgrenze von 3% gehalten. Italien ist finanziell und wirtschaftlich schon als kranker Mann in den Euro gestartet und hat sich trotz des enormen Zinsvorteils, der mit dem Eurobeitritt verbunden war, nie auf einen wirklich soliden Finanzpfad begeben. Frankreich wollte von vorneherein das Joch der deutschen Bundesbank abstreifen und hat dieses Ziel Schritt für Schritt umgesetzt. Nicht zuletzt, indem Paris schon zweimal den Präsidenten der EZB stellte, der selbstverständlich auch politisch am Mutterland hängt.
Der Euro ist kein Spiel
Nicht ohne Grund gelten bei jedem Spiel gelten Regeln, und zwar für alle die gleichen. Sonst wird es unfair. Der Euro ist kein Spiel, umso ernster müssen gemeinsame Regeln genommen werden. Dass es für zahlreiche Euro-Beitrittsländer schwer werden würde, ohne die Möglichkeit zur Abwertung die Wettbewerbsfähigkeit aufrecht zu erhalten, war von Anfang an bekannt und ein zentrales Gegenargument gegen die Gemeinschaftwährung. Helmut Kohl (CDU) und Theo Waigel (CSU) haben sich dennoch aus politischen Motiven auf dieses Abenteuer eingelassen. Um die Zustimmung von Bundesbank und Wählern zu erhalten, haben sie das Regelwerk zum Euro über den grünen Klee gelobt und ernsthaft behauptet, dies würde die Solidität der Gemeinschaftswährung schützen. Nun darf man mindestens von der Union erwarten, dass sie die Regeln auch mit Zähnen und Klauen verteidigen.
Denn es geht auch um Fairness beim Wohlstand. Frankreich braucht auch deshalb so viel Geld für seinen Staatshaushalt, um seinen Bürgern einen aus deutscher Sicht ordentlich unterfütterten „vorzeitigen“ Ruhestand zu ermöglichen – auch nach der heftig bekämpften Reform wird das noch so sein. Bisher konnte man jenseits des Rheins mit 60 in Rente, oftmals sogar mit 58 Jahren. Die Franzosen erhalten 74% ihres letzten Nettogehalts als Rente – davon kann man hier nur träumen. Die Lebenserwartung ist zudem höher als hierzulande. Dafür gibt der Staat 13,4% seiner Wirtschaftsleistung an Zuschuss aus, Deutschland 10,4%.
Seit Corona kann die EU-Kommission eigene Schulden machen
Eine zentrale Barriere zu gemeinsamen europäischen Schulden ist während Corona bereits gefallen. Seitdem kann die EU-Kommission eigene Schulden machen. Bisher gilt das als einmaliger Fall, aber Frankreich und insbesondere Italien arbeiten diplomatisch schon großer Energie daran, die Ausnahme zur Regel zu machen. Mit individuellen Schuldenregeln droht der nächste gravierende Sündenfall.