Die neue Kraft des Parlaments
Die Fraktionen und das Parlament werden wieder zum Kraftzentrum. Das zeigt sich bereits zum Auftakt der 19. Legislaturperiode. Die Kanzlerin zollte dem mit einem ordentlichen Schuss Demut in ihrer gestrigen Regierungserklärung bereits Tribut, als sie ihre frühere Haltung zu den Bürgerkriegen in Nahost als ignorant und „naiv" beschrieb.
Die neue Kraft der Fraktionen speist sich aus mehreren Quellen. Zunächst personell: An der Spitze der SPD-Fraktion steht die starke Frau der Partei und mögliche nächste Kanzlerkandidatin, Andrea Nahles. Sie wird versuchen, über den Hebel Fraktion die SPD als wahrnehmbare politische Kraft zu positionieren und immer wieder gegen den Kabinetts-Strich bürsten – ohne freilich die GroKo grundsätzlich zu gefährden.
In der Union hat die Merkel-Nachfolgedebatte längst begonnen.
Sie ist somit mit fortschreitender Dauer eine lahme Ente. Zudem haben die konservativen Teile der Unionsfraktion mit Jens Spahn und Horst Seehofer jetzt einen Resonanzboden im Kabinett. Beide werden sich die Bälle zuspielen.
Kraft bekommen die Fraktionen aber auch aufgrund inhaltlicher Kontroversen. Das wird sich besonders ab der 2. Hälfte der Legislatur zeigen, wenn größere haushalts- und finanzpolitische Fragen anstehen und die Verhältnisse beeinflussen. Der neue EU-Haushalt steht an, die Folgen des Brexit müssen in praktische Politik übersetzt werden. Aber es ist auch nicht ausgeschlossen, dass wieder Hilfspakete für fußkranke EU-Mitglieder zur Debatte stehen.
Mit FDP und AfD sind zwei Parteien im Bundestag, die die Debattenkultur aufleben lassen. In der 18. Legislatur gab es die große Konformität auch zwischen Regierung und Opposition aus Grünen und Linken. Schon jetzt sind viele Beobachter positiv angetan von den intensiveren, kontroversen, aber dennoch gewöhnlich niveauvollen Diskussionen, die die Parlamentarier neuerdings (wieder) führen.
Kommende Außeinandersetzungen bei abflachender Konjunktur?
Wirtschaftspolitisch ist erst in der 2. Legislaturhälfte mit heftigen Auseinandersetzungen insbesondere mit dem Wirtschaftsflügel der Union zu rechnen. Dann werden sich die Folgen der US-Steuerreform und der französischen Steuerreform zuungunsten der deutschen Unternehmen bemerkbar machen. Die Konjunktur dürfte bis dahin abflachen und somit auch die Aussicht auf Steuerzuwächse. Gleichzeitig wird die EU mehr Geld benötigen. Und das deutsche Sozialsystem ohnehin.
Die Kanzlerin wird versuchen, die Kontroversen zu antizipieren. Sie wird den Streit mit den Fraktionen nicht suchen. Zumal ihr Zuchtmeister Volker Kauder möglicherweise schon im Herbst dieses Jahres ersetzt wird. Entsprechend werden die Gesetzesvorlagen ausfallen. Innenpolitisch gibt es vorerst wenig, wo Regierung und Regierungsfraktionen auf Kontroverse schalten. Jedenfalls soweit man sich an den Koalitionsvertrag hält.
Wir werden trotz fortgesetzter Großer Koalition ein ganz andere Regierungspraxis erleben als in der 18. Legislaturperiode.