Die Gier nach Krisen
Deutschland braucht dringend eine schwere Rezession. Entschuldigen Sie meinen Sarkasmus. Aber vermutlich können wir nur dann auf die dringend benötigte Rentenreform hoffen (FB vom 24.3.), die die vielen losen Enden unseres Rentensystems verknüpft und es für den Ruhestand der Babyboomer berechenbar und sturmfest macht.
Was in Europa schon lange gilt, um politische Entscheidungen von größerer Tragweite zu fällen, greift nun auch national um sich. Regierungen benötigen längst den permanenten Ausnahmezustand, um politisch etwas voranzubringen. Anlass für politische „Jahrhundertentscheidungen“ sind seit Jahren stets: Krisen. Fukushima (Atomausstieg), Syrienkrieg und Migrationswelle (Multikulturelle Gesellschaft), Klimakrise (Europäisches Schuldenpaket für Nachhaltigkeit), Corona (Eurobonds und europäische Gemeinschaftsschulden) und jetzt der Ukraine Krieg (Verteidigungspolitik). Ohne Krise scheint Regieren nicht mehr zu gehen. Man braucht sie, damit alle schnell mitziehen und man sich nicht „tot-debattiert“.
Blick zurück
Das ist nichts grundlegend Neues: Schon immer wurden Krisen dazu genutzt, unentschiedene Themen politisch übers Knie zu brechen. Helmut Kohls (CDU) stark umstrittene Entscheidung zum Euro fiel mit der Wiedereinigung. Die Rentenreform und auch die Hartz-Reformen unter Gerhard Schröder (SPD) kamen im Angesicht von fast 5 Millionen Arbeitslosen und einem aus den Fugen geratenden Sozialhaushalt.
Doch sie hatten immerhin eine parlamentarischen Vorlauf und waren somit auch inhaltlich vorbereitet. Sie stellten auch nicht – so wie bei Merkel – spontan eigene politische Ansichten auf den Kopf. Die plötzliche Entscheidung eines 100 Mrd. Euro "Sondervermögens" für die Bundeswehr zeigt, dass Olaf Scholz im Sponti-Stil Merkels weitermacht. Das Parlament debattiert dann anschließend. Es reagiert nur – und nimmt sich so selbst aus dem Spiel.
Situative Entscheidungen sind besonders teuer.
Situative Entscheidungen sind gewöhnlich nicht durchdacht und daher besonders teuer. Trauriges Beispiel: die Energiewende. In Ausnahmezuständen sitzt das Geld stets locker. Dann – und nur dann, können die auseinanderstrebenden Interessen in der diversen Gesellschaft und hohen Folgekosten situativen Regierens mit Geld zugeschüttet werden.
Finanzminister Christian Linder – welcher Partei gehört er doch gerade an, ach, ja, den Liberalen – ist längst selbst mit dem Füllhorn unterwegs. Ohne rot zu werden, verteilt er finanzielle Schmerzmittel für die Entscheidung, die Klimawende durchzuboxen und zugleich Russengas, Atomkraft und Kohle abzuschalten. Die Renten werden mal eben um 5,35% (Westen) bzw. 6,1% (Osten) erhöht, die Bundeswehr bekommt 100 Mrd. zusätzlich usw. Ein Nachtragshaushalt wird angekündigt, da ist der aktuelle Haushalt noch nicht mal beschlossen. Wäre es nicht so makaber, würde ich im Sinne des Finanzministers sagen: Glücklicherweise gibt es den Ukraine-Krieg, der die Pandemie ablöst und dafür sorgt, dass der gar nicht erst zugeschnürte Sparstrumpf schon wieder weit geöffnet werden kann und vor einem bösen Ampel-Streit bewahrt.
Ständiger Alarmismus
Eine Abhängigkeit der Regierenden von Krisensituationen ist per se ungesund. Das sorgt für ständigen Alarmismus – hierfür stehen aktuell die Namen Lauterbach, Wieler und Drosten –, das Aufblasen von Problemen, anhaltende Angstzustände in der Bevölkerung, zunehmende unternehmerische Lähmung und damit eine Verstärkung von Krisenzuständen und die Vernachlässigung wichtiger Themen, von denen der Blick der Öffentlichkeit abgelenkt wird.