Klare Verhältnisse
Der Wähler hat gestern einen guten Job gemacht … Das Wahlergebnis schafft klare Verhältnisse. Es kommt die Ampel unter einem Kanzler Olaf Scholz. Die Regierung wird vor Weihnachten stehen. Rot-Grün-Rot ist vom Tisch. Die Linke ist nur noch über ihre Direktmandate im Bundestag. Das Erpressungspotenzial gegenüber den Liberalen hat sich in Luft aufgelöst. Es gibt für die Regierung keine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Unsäglich ist wiederum die Aufblähung des Bundestages auf 735 Abgeordnete.
Auch wenn gestern in den abendlichen Talkrunden noch reichlich Nebel produziert wurde: Nach dem Wahlabend und dem vorläufigen Endergebnis – 24,1% Union, 25,7% SPD – ist doch klar: Die Union als großer Wahlverlierer muss mit der AfD, ebenfalls Wahlverlierer, in die Opposition. Auch das wird interessant. Man wird sich arrangieren müssen. Und oftmals gemeinsam Anträge der Regierung ablehnen. Wenn man der Union für eines danken kann, dann dafür, dass sie auf den letzten Metern Rot-Grün-Rot zum Thema gemacht und verhindert hat.
CDU/CSU in der Opposition mit der AfD
CDU/CSU müssen ihr Profil wieder schärfen. Die Union wird wohl eher die linken Ausfransungen abschleifen, die unter Merkel mehr als reichlich entstanden sind. Armin Laschet und die Union bekommen somit auch die späte Quittung für Merkels Politik. Wie stark sie die Partei entkernt hat, lässt sich an den Kompetenzzuweisungen ablesen: -15% bei Kriminalitätsbekämpfung, -25% bei Wirtschaft, -17% bei Außenpolitik, -15% bei Asyl- und Flüchtlingspolitik, -14% in der Steuerpolitik. Das ist eindeutig.
Die Wirtschaft kann aufatmen, (durchatmen kann sie noch nicht). In der Ampel paart sich Kontinuität mit Veränderungswillen. Scholz hat im Wahlkampf nicht umsonst die Merkel-Raute übernommen. Er übernimmt auch Merkels Prinzipien bei der Regierungsbildung: Die größere Partei bekommt den Kanzler, die kleineren die Inhalte und die wichtigsten Ämter nach dem Kanzler: das Außenministerium und das Finanzministerium. Sie gehen an Annalena Baerbock und Christian Lindner. Robert Habeck wird in der Grünen-Partei primus inter pares, Erster unter Gleichen.
Es wird eine teure Koalition
Es wird eine teure Koalition. Die Jugend bekommt viele grüne Versprechungen, die Alten viele rote, die Wirtschaft eine (digitale) Investitionsoffensive. Die Grünen wollen in den Umweltschutz und den Ausbau der Erneuerbaren massiv investieren, die FDP in die Digitalisierung.
Kanzler Olaf Scholz will den industriellen Kern erhalten und er wird darauf achten, dass auch seine Wähler ordentlich bedient werden: die Rentner. Ihre „Wanderung“ weg von der CDU hin zu ihm haben der SPD den gestrigen Wahlerfolg beschert. +18% bei den über 60-Jährigen: Das ist eine Verpflichtung. Scholz nennt sie „Respekt“. Für die Finanzpolitik ist das ein Menetekel. Zudem wird der Mindestlohn auf 12 Euro erhöht. Ein Signal ist auch: Die Pandemie spielt bei der Wahl keine Rolle mehr; in den Diskussionen nicht, bei den Wählern nicht. Sie kann als dominierendes Thema mit der alten Regierung von der Bildfläche verschwinden. Dafür wird im öffentlichen Raum künftig noch intensiver gegendert werden.
Es kann noch was schiefgehen
Kann noch was schiefgehen auf dem Weg zur Regierungsbildung? Ja. Das große Wunschkonzert muss noch finanziert werden. Die Schuldenbremse bleibt pro forma, aber sie wird weiter ausgesetzt. Das Zugeständnis wird sich Christian Lindner abringen lassen. Die grüne Fraktion ist jung und steht politisch weit links. In der SPD-Fraktion haben die Jusos eine wichtige Rolle. Ihr Protagonist Kevin Kühnert dürfte von Scholz daher in die Regierung eingebunden werden.
Auch bei der Besetzung der Ministerien kann es noch manche unschöne Überraschung geben. Es wird bei einem Mann an der Regierungsspitze mehr Ministerinnen geben als Minister. Das steht umgekehrt proportional zu den Auswahlmöglichkeiten. Die größten Spannungen wird es in der Sozialpolitik geben: Die FDP kann nicht zulassen, dass die Privatversicherten eingemeindet werden. Auch ein bundesweiter Mietendeckel steht mit ihr nicht zur Diskussion. Eine Verlängerung des Renteneintrittsalters wird die SPD nicht zulassen. Hier heißt der Ausweg: Flexibilität. In der Steuerpolitik wird das Ehegattensplitting „reformiert“, Zweitverdiener bessergestellt.
Der allerletzte Ausweg
Der letzte Ausweg 2017, die GroKo, bleibt eine theoretische Möglichkeit. Die Mehrheit der Wähler hätte sogar für dieses Bündnis votiert, hätte es zur Wahl gestanden. Nachdem die SPD 2017 über manches Stöckchen springen und manche Pirouette drehen musste, wäre im Notfall diesmal die Union in der „demokratischen Pflicht“.Die Wahrscheinlichkeit ist noch geringer als schon 2017. Aber der gestrige Wahlausgang hat gezeigt: Unverhofft kommt oft.
Respekt zolle ich der SPD und Olaf Scholz. Er war der Kandidat, der keiner war und hat diese schwierige Rolle stoisch angenommen. Die Partei hat sich nicht aufgegeben. Sie hatte keine Chance und die hat sie genutzt. So weit, so demokratisch. Ihr Ralf Vielhaber